Verheugen in Bamberg: Warum sich der Ex-Politiker Sorgen um Europa macht
Autor: Günter Flegel
Bamberg, Donnerstag, 27. Juli 2017
Der frühere Bundestagsabgeordnete Günter Verheugen (SPD) sieht Europa in der Krise: Doch was hilft? Am Freitag spricht der Kulmbacher über Lösungen.
Ein Zitat von Winston Churchill lässt sich sehr gut transformieren, um Günter Verheugens Haltung zu Europa zusammenzufassen. "Die EU ist die schlechteste aller Konstruktionen. Aber wir haben keine bessere." Warum er trotz aller Krisen zu Europa steht, erklärt der SPD-Politiker am Freitag ab 13.15 Uhr in der Konzert- und Kongresshalle in Bamberg beim Wissenschaftstag der Metropolregion Nürnberg.
Gastgeber ist die Universität Bamberg, die den wissenschaftlichen "Wander-Tag" der Metropolregion zusammen mit der Stadt und dem Landkreis Bamberg und Partnern aus der Wirtschaft veranstaltet. Unsere Redaktion nutzte den Bamberg-Besuch, um Verheugen Fragen zum Zustand der EU zu stellen.
Sehr geehrter Herr Verheugen, Sie gelten als einer der Architekten der EU-Erweiterung. Haben Sie Angst um Ihr Werk?
Günter Verheugen: Es ist nicht Angst, aber ich bin besorgt. Meine langfristige Vorstellung war immer, dass wir die Einheit des gesamten europäischen Kontinents brauchen. Die ist notwendig, wenn wir in der sich rapide verändernden Welt von morgen, in der neue Mächte danach streben, die globale Agenda zu bestimmen ankündigen, bestehen wollen. In Europa kommt es darauf an, Grenzen zu überwinden. Was wir jetzt sehen ist, dass neue Grenzen entstehen, dass eine neue Teilung Europas schon Realität ist. Das fängt in den Köpfen an. So wird die EU, ja ganz Europa im weltpolitischen Abseits landen.
Brexit auf der einen Seite, Erdogan auf der anderen, mittendrin die Flüchtlingskrise: Ist die Union noch handlungsfähig? Und was ist, ganz aktuell, mit Polen?
Günter Verheugen: Bei Polen rate ich zu Vorsicht in der Beurteilung. Wenn es ein Volk in Europa gibt, von dem ich glaube, dass es seine Demokratie und seine Freiheit verteidigen wird, dann ist es das polnische. Da bin ich nicht in Panik. Aber prinzipiell gebe ich Ihnen recht, es stellt sich sehr wohl die Frage der Handlungsfähigkeit der EU. Im Alltagsgeschäft funktioniert die Union sehr gut, wie eh und je, sie produziert ununterbrochen neue Vorschriften und so weiter. Aber das ist nicht, um was es geht. Bei den großen Herausforderungen herrscht Stillstand. Strukturelle Probleme werden nicht angefasst, es gibt den Vertrauensverlust der Menschen gegenüber der EU - und auch gegenüber den nationalen Regierungen, gegenüber der Politik insgesamt. Bei der EU kommt das Gefühl dazu, dass Entscheidungen nicht demokratisch fallen, sondern technokratisch. Auch die Währungsunion ist noch nicht aus dem Krisenmodus heraus. Und die langfristig schwierigste Aufgabe, mit der wir zu tun haben werden, ist der wachsende Migrationsdruck; die Flüchtlingsfrage ist da nur ein Teilaspekt. Das sind Handlungsfelder, wo die EU Lösungen braucht. Und wo derzeit den Staaten das nationale Hemd leider näher ist als das europäische Gesamtinteresse.
Zum Brexit werden Sie mit dem Satz zitiert, dass in der EU im Moment alles schiefgeht, was schiefgehen kann. Anders gefragt: Was läuft denn gut in der EU?
Günter Verheugen: Ich will mal so sagen: Im vergangenen Jahr hatten wir nach dem Brexit eine gewisse Weltuntergangsstimmung, die Angst, dass der Populismus Europa von innen zerstören könnte. Wir sehen heute, dass es so nicht gekommen ist. Ich bin versucht zu sagen: Das Gute ist das Schlechte, das nicht eingetreten ist. Aber es ist schon nicht zu unterschätzen, was es bedeutet, dass es den 27 (EU-Staaten, Anm. d. Red.) nach der Brexit-Entscheidung gelungen ist, den Zusammenhalt zu wahren, eine gemeinsame Antwort zu finden. Es hat keine Kettenreaktion gegeben, und das zeigt: Das Fundament der EU ist immer noch stark genug, um das Gebäude zu tragen.
Wurden bei der Konstruktion dieses Hauses Fehler gemacht?
Günter Verheugen: Der Weg, der gegangen wurde, die wirtschaftliche Integration mit dem Ziel, dann schrittweise zur politischen Integration zu kommen, war nicht ideal. Es war auch gar nicht so gedacht. Man wollte eine politische Gemeinschaft und eine gemeinsame europäische Verteidigung. Das ist gescheitert. Die EWG (Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft) war die zweitbeste Lösung. Erstaunlich dennoch, was damit erreicht worden ist. Die Erweiterung der EU in den Jahren 2004, 2007 und 2013 war natürlich ein gewaltiger Schritt. Von Detailfragen abgesehen, bin ich fest davon überzeugt, dass die gewählte Strategie richtig war. Wie wäre die Lage in Europa, wenn ganz Mittel- und Osteuropa ein einziger Krisengürtel wäre? Hinterher sind natürlich immer viele Leute schlauer, wie jetzt zum Beispiel bei Ungarn oder Polen. Da möchte ich daran erinnern, dass Deutschland gerade diese beiden Länder ganz schnell in der EU haben wollte, auch aus Dankbarkeit für deren Rolle seit Beginn der 80er Jahre. Grundsätzlich: Veränderungen brauchen Zeit. Das ist keine Frage von Regeln und Institutionen, sondern von Menschen.
Die einen sehen in der EU vor allem eine Wirtschaftsunion, die anderen eine Wertegemeinschaft, wieder andere ein bürokratisches Monster, das sich vor allem mit sich selbst beschäftigt. Müsste die EU nicht gerade da ansetzen, sich, um die Marketingsprache zu benutzen, endlich ein klares Profil geben, einen gemeinsamen Auftritt?
Günter Verheugen: Mit einem Slogan ist es nicht getan. Meine Erfahrung in Brüssel hat mir gezeigt, dass die europäische Integration die kulturellen Unterschiede in den Mitgliedsstaaten nicht überwinden kann, auch gar nicht überwinden darf. Die europäische Botschaft muss immer auf die nationalen Eigenarten Rücksicht nehmen. Der Kern des Übels ist, dass die Balance in der EU gestört ist zwischen den nationalen Handlungsspielräumen und den supranationalen Machtansprüchen. Brüssel muss lernen, dass die EU kein Einheitsbrei ist. Wir brauchen tiefgreifende Reformen in der Politik, den Institutionen und Verfahren der EU, damit sie wieder Zustimmung gewinnt
Sie sind lange dafür eingetreten, dass die Türkei Mitglied der EU wird. Sehen Sie das heute anders?
Günter Verheugen: Nein. Es liegt in unserem Interesse, dieses wichtige Land an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien fest an uns zu binden. Daran ändert die aktuelle Lage in der Türkei nichts. Im übrigen gilt in der EU, dass alle Völker Europas, die sich der EU anschließen wollen und dazu fähig sind, willkommen sind; und das wird weiterhin auch für die Türkei gelten, wenn auch gewiss nicht in ihrem heutigen Zustand.
Was wäre Ihr Ansatz für eine europäische Flüchtlingspolitik?
Günter Verheugen: Dafür braucht es zwei Dinge: Erstens eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die uns in die Lage versetzt, präventiv Konflikte einzudämmen, so dass Flüchtlingsströme gar nicht erst entstehen. Das funktioniert bisher nicht. Der Fall Syrien zeigt das ja ganz deutlich. Zum Zweiten: Es gibt Staaten in Europa, und Deutschland zählt dazu, die auf Einwanderung angewiesen sind. Die müssen sich als Einwanderungsländer definieren. Bei der Zuwanderung müssen wir selber entscheiden können, wer unter welchen Bedingungen zu uns kommt. Aber noch einmal: Unsere humanitäre Verantwortung gegenüber Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen bleibt davon unberührt. Wir hatten mehr als genug Zeit, um eine vernünftige Einwanderungspolitik zu entwickeln. Das wurde versäumt, und diesen Vorwurf muss man allen politischen Akteuren machen.
Wenn Sie Martin Schulz (dem Kanzlerkandidaten der SPD) einen Satz ins Poesiealbum schreiben dürften: Was wäre das?
Günter Verheugen: Lieber Martin, Du sollst nur das versprechen, was Du auch halten kannst.
Eine persönliche Frage: Haben Sie noch Verbindungen nach Franken?
Günter Verheugen: Ja natürlich, es war meine beste Entscheidung, für den Wahlkreis Kulmbach zu kandidieren. Da sind viele Bindungen geblieben, politisch und auch persönlich, viele Freundschaften, allen voran mit Inge Aureis. Ich freue mich schon darauf, am Freitag wieder einmal das echte fränkische rollende "R" zu hören.