Tschernobyl: "Erst die Angst, dann Leere"
Autor: Petra Mayer
Bamberg, Montag, 18. April 2016
Der 30. Jahrestag von Tschernobyl naht. Jochen Neurath veranstaltet am 23. April dazu mit anderen renommierten Musikern in Bamberg ein Gedenkkonzert.
Alles begann mit einer Sicherheitsüberprüfung des Reaktors von Block 4 - in der Nacht zum 26. April 1986. Daraus entwickelte sich die schwerste nukleare Havarie aller Zeiten, die bis heute auch als eine der schlimmsten Umweltkatastrophen gewertet wird. In riesigen Wolken zog radioaktives Material über Europa. - Tschernobyl: Keiner, der die dunklen Tage im April vor nunmehr 30 Jahren miterlebt hat, wird die damit verbundenen Gefühle der Angst, Ohnmacht und Fassungslosigkeit je vergessen. Ein Konzert, das auch als Warnung vor dem bedingungslosen Vertrauen in den Fortschritt zu verstehen ist, veranstaltet Jochen Neurath. Gemeinsam mit anderen Musikern erinnert der Komponist an die Katastrophe und schrieb als titelgebendes Werk der Gedenkveranstaltung: "Void" - die Leere.
Existenzielle Erschütterung
"Was ich damals fühlte? Eine Art existenzielle Erschütterung", berichtet der 47-Jährige, der 1986 noch das E.T.A.-Hoffmann-Gymnasium besuchte. Aus den Fernsehnachrichten hatte Neurath von den Ereignissen erfahren, deren Ausmaß anfangs noch keiner abschätzen konnte. "Auch in unserer Klasse gab's kein anderes Thema mehr. Alle waren verunsichert und fragten sich, inwieweit man überhaupt noch ins Freie gehen kann." Alarmierende Strahlenwerte wurden gemessen und versetzten die Menschen allen Beschwichtigungsversuchen der Politik zum Trotz in Panik. So betonte auch der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann am 29.
April noch in einem Interview, eine Gefährdung sei "absolut auszuschließen". Sie bestünde lediglich in einem Umkreis von bis zu 50 Kilometern um den Reaktor.
Nach Wackersdorf
"Ich begriff, wie zerstörerisch die technischen Errungenschaften des Menschen sind", sagt Neurath, der sich anders als viele Gleichaltrige zuvor nicht an den Protesten gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf beteiligt hatte. "Auch in unserer Klasse gab's ja Fahrgemeinschaften zu den Demos. Und natürlich war Grafenrheinfeld ein Thema." Während Neurath selbst zu dieser Zeit ersten Kompositionsunterricht bei Horst Lohse erhielt, in einer Welt der Musik lebte und politisch weniger aktiv war. Tschernobyl veränderte alles. Zumal die Informationspolitik zu der Zeit eine eigene Katastrophe darstellte. "Man wusste nicht, wie gefährlich Obst, Gemüse oder etwa Milch von heimischen Bauern ist." Was der Regen bringt. "Gewissheiten waren von einem Tag auf den anderen infrage gestellt." Und natürlich fühlten alle mit den Menschen, die vor Ort direkt betroffen waren - den Strahlenopfern.
Renommierte Mitwirkende
"Void - die Leere" nannte Neurath das Konzert, das er zum 30. Jahrestag von Tschernobyl in der Johannis-Kapelle für Freunde Neuer (klassischer) Musik veranstaltet. "Das Unglück hat schließlich nichts als Leere hinterlassen - eine leere zerstörte Landschaft, in der es keine Menschen mehr gibt." Neben dem Bamberger Komponisten erwartet die mehrfach ausgezeichnete griechische Mezzosopranistin Taxiarchoula Kanati das Publikum, die sich an der Staatsoper Stuttgart profilierte.
Aus Stuttgart reist auch Stefan Schreiber an, Pianist, Dirigent und Studienleiter der Staatsoper, "unter dessen Leitung schon zahlreiche Ur- und Erstaufführungen stattfanden". Darüber hinaus betrachten Peter Berger (Trompeter beim Württembergischen Kammerorchester) und Emil Kuyumcuyan als Schlagzeuger "die existenziellen Fragen, die eine derartige Katastrophe auslöst": Fragen des Glaubens in einer immer unsicherer werdenden Welt.In drei Gesängen kontrastiert Neurath die "überschwängliche Glaubensgewissheit von Barock-Gedichten mit Neuer Musik". Zu hören sind auch Kompositionen Galina Ustvolskajas, "die ihre radikal konzentrierten Werke in der Sowjetunion der damaligen Zeit schrieb". Vier Musiker reichten ihr, "um eine Symphonie zu gestalten, in der der Mensch in seiner Verlorenheit einem Gott gegenübersteht, dessen Existenz alles andere als gewiss ist."