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Terror in Paris, Nizza, Wien: "Extremismus hat nichts mit Religion zu tun" - ein Interview


Autor: Marion Krüger-Hundrup

Bamberg, Donnerstag, 05. November 2020

Die islamistischen Terroranschläge in Paris, Nizza, Wien treiben die Religionsvertreter auch in Bamberg um.
Muslime beten friedlich in der Moschee an der Coburger Straße. Sie sind entsetzt über die Terroranschläge in Frankreich und Wien. Foto: Marion Krüger-Hundrup


Mehmet Cetindere ist sichtlich geschockt. "Erst belastet uns die Pandemie, jetzt kommt noch das hinzu!", ruft der Vorsitzende des Türkisch-islamischen Kulturvereins in Bamberg. Und Cetindere sagt: "Wir schreien laut vor Schmerz über die Opfer!" Über die Toten und Verletzten, die islamistische Terroranschläge in Paris, Nizza, Wien gefordert haben.

"Terroristen stiften nur Unheil, das erschreckt uns alle", spricht Cetindere für die Muslime, die in Bamberg leben. "Wir stehen zur Demokratie und den Grundwerten und wollen sie schützen", fügt er hinzu. "So Gott will, bekommen wir das Hand in Hand hin", nimmt er auch die Mehrheitsgesellschaft und alle in ihr vertretenen Religionen in die Pflicht. Denn "wir dürfen den Extremisten, die nichts mit dem Islam zu tun haben, nicht erlauben, über uns zu herrschen!", fordert Mehmet Cetindere. Und: "Terror hat niemals Macht über Menschliches", erinnert er daran, dass jetzt in Wien zwei junge Türken und ein muslimischer Albaner verletzten Anschlagsopfern selbstlos geholfen haben.

Vorsitzender Kulturverein: "Terror hat niemals Macht über Menschliches"

Mehmet Cetindere, der wie viele seiner türkischen Landsleute seit Jahrzehnten in Bamberg lebt, befürchtet allerdings unberechtigte Vorwürfe und Vorurteile von so manchen. Dabei sei es ein Gebot der Stunde, "in schweren Zeiten zueinander zu stehen, miteinander zu sprechen und zusammen mit dem deutschen Staat das terroristische Gesindel zu verjagen".

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Für Yael Deusel, Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan Ha-Tfila in Bamberg, gehört eine "Grundvoraussetzung" für ein gemeinsames Leben aller Religionen in Frieden dazu: "Es wäre notwendig, dass unsere Gesellschaft geprägt wäre, wenn schon nicht von Akzeptanz, dann zumindest von Toleranz anstelle von Abgrenzung und Ablehnung des anderen", sagt die Rabbinerin. Dazu gehöre Aufklärung, die Vermittlung von entsprechenden Grundwerten. Das sei allerdings "nicht nur eine Bringschuld, sondern auch eine Holschuld, die Botschaft muss nicht nur vermittelt, sondern auch angenommen werden", betont Yael Deusel. Eine solche Holschuld könne nicht erzwungen werden: "Wir dürfen aber auch nicht nachlassen in unserem Bemühen um das Vermitteln dieser Werte."

Die Rabbinerin, die angesichts dieser "absolut sinnlosen und entsetzlichen Taten" in Paris, Nizza, Lyon und Wien "schockiert" ist, hofft und betet, "dass nicht noch weitere Mordanschläge folgen werden". Denn nicht selten handle es sich um "Nachahmertaten".

Paris, Nizza, Wien: "Absolut sinnlose und entsetzliche Taten"

Yael Deusel ist sich sicher, dass "bei all den entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen das jüdische Leben einschließlich unserer Gottesdienste weitergehen wird, auch hier in Bamberg". Wie jede andere jüdische Gemeinde "sind wir sehr, sehr wachsam, nicht erst seit den jüngsten Anschlägen". Sie sei sehr dankbar, dass die Polizei die Gemeinde in ihrem Sicherheitskonzept in enger Zusammenarbeit unterstützt.

Auch Martin Arieh Rudolph, Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg, spricht von "großen Fortschritten", was die Sicherheit der jüdischen Gemeinde betrifft. Gleichwohl nennt er es "bedauerlich", dass der Schutz "so sehr vorangetrieben werden muss". Aber nach Ereignissen wie zuletzt in Wien müsse noch einmal "aufs Gaspedal getreten werden". Zumal diese Ereignisse "Sorge bei uns Juden auslösen", wenn sie auch nach Paris, Nizza, Lyon, Dresden nicht "völlig überraschen": "Welche Begründungen für Mord an uns sogenannten Ungläubigen werden es als Nächstes sein?"

Rudolph beklagt, dass eine Verurteilung der Morde nicht oder nur "sehr halbherzig" von den offiziellen islamischen Vertretern in Deutschland erfolge. Und er fragt wörtlich: "Kann man dann überhaupt noch von einer Verständigung oder gar Integration sprechen, wenn radikal-islamische Anhänger sich über eine kritisch-despektierliche Darstellung ihres Propheten mehr entrüsten als über einen in dessen Namen begangenen Mord, ja die diesen Mord sogar noch bejubeln?" Die Ermordeten in Wien würden sich bald "in die lange Reihe der Baldvergessenen, der vom Islamismus ermordeten Europäer, als sogenannter Kollateralschaden unter der Rubrik Vermischtes einreihen", prophezeit der IKG-Vorsitzende düster.

Dekan Lechner: "Extremismus hat nichts mit Religion zu tun"

Hans-Martin Lechner, Dekan des evangelisch-lutherischen Dekanatsbezirks Bamberg, warnt vor "Extremismus in jeglicher Form", der auch in Gestalt des Islamismus auf Spaltung der Gesellschaft in ihrer Pluralität abziele. Extremismus habe nichts mit einer Religion zu tun, sondern "missbraucht diese, um ihre Ziele zu legitimieren", so Dekan Lechner. Dies habe nichts mit den gläubigen Muslimen, Juden oder Christen in Bamberg zu tun.

In Bamberg würden sich viele Bürger auch in den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften für ein plurales Miteinander der Menschen und der Religionen engagieren. Die gute interreligiöse Arbeit in Bamberg wirke seit Jahren einer gesellschaftlichen Spaltung entgegen. Der Dekan: " Wir beten füreinander, und wären wir nicht in so schwierigen Coronazeiten, würden wir dies auch in diesen Tagen im Zelt der Religionen tun. So aber beten wir zu Hause füreinander in diesen Zeiten in der Verbundenheit eines menschenfreundlichen und liebenden Gottes, den wir in allen Religionen kennen."

Interview mit Erzbischof Ludwig Schick

Die islamistischen Terroranschläge in Nizza und Wien schockieren. In einem Gespräch mit unserer Zeitung entwirft Erzbischof Ludwig Schick eine Perspektive darauf, wie Gläubige aller Religionen vor extremistischen Tätern - "sie sind Mörder" - Schutz finden können.

Nach dem islamistischen Terroranschlag in Nizza haben Sie auf Twitter und Facebook verbreitet: "Ohne Religionsfreiheit wird menschliches Leben fundamental beschädigt. Auch Religionen müssen sich Freiheit & Toleranz gewähren. Beleidigungen von Religionen sind auszuschließen. Den Opfern in Nizza Trost & Mitgefühl." Sie haben mit diesen Worten einen Shitstorm gegen sich in den sozialen Medien ausgelöst, die Ihre Anmerkung als Täter-Opfer-Umkehr beschimpfen. Nehmen Sie nach dieser Erfahrung heute etwas von Ihren Worten zurück?

Erzbischof Ludwig Schick: Ich habe den Satz "Ohne Religionsfreiheit wird menschliches Leben fundamental beschädigt" zitiert, den ich in Berlin bei der Vorstellung des 2. Berichts der Bundesregierung zur Religionsfreiheit am 28. Oktober 2020 gesagt habe. Damit habe ich zum Ausdruck gebracht, dass in Nizza und Paris die Religionsfreiheit von Menschen eklatant verletzt wurde. Die Täter sind Mörder. Zugleich habe ich erneut für Religionsfreiheit, die den Respekt und die Wertschätzung anderer Religionen und Religionsangehörigen beinhaltet, plädiert. Die Religionsfreiheit in diesem Sinn ist ein Schutz für die Gläubigen aller Religionen und ein Mittel gegen Missbrauch von Religion. Die meisten Leser meines Tweets haben ihn richtig verstanden, der "Shitstorm" kam aus einer bekannten Richtung.

Hat der politische, der fundamentalistische Islam in seiner extremsten Gestalt überhaupt noch etwas mit Religion zu tun?

Der sogenannte "politische Islam" ist Missbrauch der Religion. Er verfolgt Ziele, die man nicht einmal politisch nennen darf, denn Politik ist - dem Wortsinn nach - "Aufbau des Gemeinwesens für das Gemeinwohl". Was in Nizza, Wien und andernorts geschehen ist, muss terroristischer Islamismus genannt werden. Er strebt nach Alleinherrschaft, um seine autokratischen und egoistischen Ziele durchzusetzen. Dazu greift er zum Terrorismus und anderen menschenverachtenden Mitteln. Der sogenannte "politische Islam" ist weder Islam noch Politik.

Fundamentalistische Gewalttäter schüren Hass und verbreiten Angst und Schrecken - wie jetzt auch in Wien. Wie kann und muss darauf reagiert werden?

Auf den terroristischen Islamismus muss jede Nation mit allen Mitteln eines wehrhaften Staates reagieren. Dazu muss die internationale Staatengemeinschaft sich noch mehr zusammenschließen, um den terroristischen Islamismus auszumerzen. I

Ist mehr Integration von Muslimen in die Mehrheitsgesellschaft, Verständigung und Kooperation mit ihnen nicht unabdingbar, wenn Radikalisierung durch Ausgrenzung und Isolierung verhindert werden soll?

Der Zusammenhalt in der Gesellschaft, die auf Toleranz und Einheit bei klaren, in der Verfassung festgeschrieben Rechten und Pflichten sowie Wertvorstellungen aufgebaut ist, ist das beste Mittel, um Extreme und Extremisten zu verhindern. Dazu können und müssen die Religionen einen Beitrag leisten. Dafür ist auch der interreligiöse Dialog wichtig. Er muss ein Dialog der Wahrheit und der Liebe sein.

Schwierige Themen, wie Gewalt, Ausgrenzung, Selbstverherrlichung bei Missachtung der anderen Religionen in den Schriften und Traditionen der Religionen, müssen ausgesprochen und diskutiert werden.

Welche Antwort en können Christen überhaupt auf die entsetzlichen Taten von Nizza und Wien haben?

Gebet für die Toten und Fürbitte für die Verletzten und Hinterbliebenen. Unterstützung der Ordnungskräfte bei der Fahndung nach den Attentätern und ihren Hintermännern. Den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern durch Mitwirkung bei Erziehung und Bildung auf der Basis der Werte des Evangeliums sowie im sozialen und karitativen Bereich.

Durch authentisches Christsein, das die Bergpredigt lebt und verbreitet: "Selig, die Frieden stiften"; "Was du willst, das man dir tut, tue dem anderen" etc., den Geist der Einheit, des Friedens und der Liebe fördern. Und: den interreligiösen Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den Religionen pflegen in Wahrheit und Liebe zum Wohl aller in der Gesellschaft. Das Gespräch führte Marion Krüger-Hundrup.