Gina Lückenkemper in Bamberg: Die Schöne und der Schmerz
Autor: Tobias Schneider
Bamberg, Donnerstag, 23. Juli 2020
Der Trainer ist in Florida, Gina Lückenkemper in Bamberg. In ihrer neuen Wahlheimat quält sich Deutschlands Ausnahmesprinterin - bis die Tränen fließen.
Natürlich wird sie hier die Blicke auf sich ziehen. Das merkt Gina Lückenkemper bereits, als sie den Zugschlitten zum ersten Mal über die Wiese am Kunigundendamm schleift und ihre Sprinteinheiten absolviert. Schwere Gewichte auf einem klapprigen Eisengestell, 20 Kilogramm, festgezurrt mit Bändern am Oberkörper. Und sie als lebende Dampflok vornweg.
"Das sorgt natürlich für Aufmerksamkeit. Ich muss für einige Menschen eine echte Attraktion sein", sagt die gebürtige Westfälin. Viele bleiben stehen und staunen, ahnen aber nicht, dass hier gerade Deutschlands schnellste Sprinterin trainiert. Auf einem kleinen Grünstreifen am Wasser. Mitten in Bamberg. "Dass ich hier lebe, wissen viele ja nicht. Ab und zu werde ich erkannt, das ist aber eher die Seltenheit. Hier kann ich größtenteils noch inkognito unterwegs sein."
Dabei spielt sie sportlich in der Liga der ganz Großen: 10,95 Sekunden ist Lückenkemper 2017 über 100 Meter gelaufen, die schnellste Zeit einer Deutschen seit Katrin Krabbe 1991. Keine deutsche Läuferin ohne DDR-Vergangenheit ist je schneller gewesen.
Die Liebe führt sie nach Bamberg
Bamberg hat nun eine Athletin aus der Weltspitze praktisch geschenkt bekommen. Seit Ende 2017 pendelt die 23-Jährige der Liebe wegen zwischen ihrer Heimat, dem westfälischen Soest, und Bamberg hin und her, seit 1. Januar lebt und trainiert sie dauerhaft hier - Ersteres nach eigener Aussage bestens. Letzteres so gut es in Corona-Zeiten eben geht.
Zu den ungewollt öffentlichen Trainingseinheiten am Kanal gibt es zeitweilig jedenfalls keine Alternative: Weil das Fuchs-Park-Stadion zu Beginn der Corona-Pandemie gesperrt und Hallen ebenfalls nicht zugänglich sind, bleibt neben dem Kraftraum in der eigenen Wohnung nur der Gang in die Natur.
Bis Familie Betz auf der Bildfläche auftaucht. "Meine Tochter ist Leichtathletin, für sie ist Gina ein riesiges Vorbild. Auf Instagram hat meine Frau gesehen, dass sie am Kanal trainiert. Dann haben wir ihr unseren Garten hinter dem Geschäft angeboten, der ist groß und blickgeschützt. Ich würde ja auch nicht wollen, dass mir jeder beim Training zuschaut", sagt Roland Betz. Lückenkemper sagt sofort zu. "Das war eine echt große Hilfe, dafür bin ich sehr dankbar. Auch der LG Bamberg, die sich für mich eingesetzt hat, dass ich schnellstmöglich wieder ins Stadion konnte und deren Geräte ich mitbenutzen durfte. So musste ich nicht immer alles mit mir herumschleppen."
Wettkämpfe? Nicht in Sicht
Noch trägt sie aber die Ungewissheit mit sich herum, wie es sportlich in diesem Jahr weitergeht. Olympia ist auf 2021 verschoben. Ansonsten ist der Terminkalender noch leer, in der persönlichen Planung sind Wettkämpfe vorerst nicht vorgesehen. "Es gibt zwar hier und da kleinere Veranstaltungen. Momentan kann ich aber nicht absehen, wann ich wieder ins Wettkampfgeschehen einsteige", sagt Lückenkemper und lässt womöglich auch die deutschen Meisterschaften am 8./9. August in Braunschweig sausen. "Wenn ich starte, habe ich Erwartungen an mich selbst und möchte Leistung bringen. Das kann ich noch nicht", sagt die 23-Jährige. Weil es in diesem Jahr keinen Saisonhöhepunkt gibt, mache es keinen Sinn, jetzt oder im August in Top-Form zu sein. Ein weiterer Grund: Die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Tokio hat sie 2019 mit 11,14 Sekunden bereits abgehakt. Es bleibt also noch Zeit. Viel Zeit. Und das spielt ihr durchaus in die Karten.