Ein Franke mischt die Schweiz auf: Lukas, der Anführer
Autor: Tobias Schneider
Kemmern, Donnerstag, 30. April 2020
Von der Teilzeitkraft zum Leistungsträger: Lukas Görtler spielt seine wohl beste Saison und ist in der Schweiz mit dem FC St. Gallen auf gutem Weg zur Meisterschaft. Dann stoppte Corona den Sport. Im Juni soll es aber weitergehen.
"Im Kopf sind die Bilder noch sehr präsent: wie ich das Tor mache, jubelnd zu den Fans in die Kurve laufe. Ein volles Stadion. Als Kind träumt man genau davon. Ein unglaublicher Moment", sagt Lukas Görtler. Neun Wochen ist es nun her, als er letztmalig für den FC St. Gallen in der Schweizer Super League auf dem Feld stand, beim Topspiel gegen die Young Boys Bern vor 20 000 Zuschauern im ausverkauften Kybunpark. Erster gegen Zweiter. Und der aus Kemmern stammende Mittelfeldspieler glänzte: zwei Torvorlagen, sein Kopfballtreffer in der Nachspielzeit zum 3:2. Das kleine Märchen des FC St. Gallen schien sich fortzuschreiben; sie alle glaubten, der ersten Meisterschaft nach mehr als 20 Jahren noch einen Schritt näher zu sein.
Weil aber ein unglückliches Handspiel zusätzlich auf einen übereifrigen Video-Assistenten traf, glich Bern in der 97. Minute nach vielen Diskussionen per wiederholtem Strafstoß noch zum 3:3 aus. Die grün-weiße Partie war vorerst gelaufen. Görtler stapfte vom Feld und beklagte in diesem Augenblick die große Ungerechtigkeit. Ein Fußball-Drama, und doch so klein. Ein reales und viel größeres sollte folgen.
Das Coronavirus hat auch in der Schweiz das öffentliche Leben massiv beeinflusst. Seit jener Partie vom 23. Februar ruht in der Super League der Spielbetrieb und bei Görtler der Traum von der Meisterschaft. Nach dem emotionalen Hoch der vergangenen Monate setzte die große Leere ein. "Wir haben noch zwei Wochen trainiert, mussten das Mannschaftstraining danach aber einstellen. Seitdem hatte ich keinen Ball mehr am Fuß und halte mich individuell fit. Ein Dauerzustand ist die Situation nicht, es zehrt an den Nerven", sagt der 25-Jährige.
Seit Mittwoch ist aber die Hoffnung zurück: Die Politik hat den Rahmen geschaffen, dass die Saison in den beiden höchsten Ligen - ähnlich wie in der Bundesliga - mit Geisterspielen fortgesetzt werden kann. Am 11. Mai soll das Mannschaftstraining starten, ab 8. Juni könnte der Spielbetrieb unter strengen Gesundheitsauflagen fortgesetzt werden - aber fast pausenlos und bis in den späten August hinein: 13 Spieltage sind noch offen, vier mehr als in der Bundesliga.
Die einzige Wahl
"Euphorisch werde ich zwar nicht, wenn ich an Geisterspiele denke. Aber sie sind wohl in naher Zukunft unsere einzige Möglichkeit. Irgendwie muss es weitergehen. Vielleicht schalten die Zuschauer nach drei Spieltagen auch ab, weil sie es langweilig oder unnötig finden", sagt Görtler: "Ein Abbruch oder eine Annullierung wäre für uns jedenfalls das bitterste Ende dieser bislang so tollen Saison."
Dass der Verein aus der fußballverrückten Stadt unweit des Bodensees nach 23 Spielen punktgleich mit den Young Boys an der Tabellenspitze steht, hat kaum einer kommen sehen. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Seit aber Ex-Bayern-Profi Alain Sutter 2018 das Amt des Sportchefs übernahm und im Juli des gleichen Jahres den Schwaben Peter Zeidler als Trainer installierte, verfolgt St. Gallen einen festen Plan. Das Team bekam eine Spielphilosophie eingeimpft, die stark von Zeidlers Zeit bei RB Salzburg geprägt ist: hohes Anfangspressing, den Gegner permanent ermüden, schnelle Pässe in die Spitze. Ein kleines Leipzig, meist in einem klassischen 4-4-2 mit Raute spielend - und Görtler als Verbindungsglied im Mittelfeld.
Nach einer Anlaufphase (nur zwei Siege in sechs Spielen zu Beginn) entwickelte sich eine positive Eigendynamik. "Ein überragender Trainer, die richtigen Charaktere und ein brutaler Teamgeist - diese Kombination ist hier einmalig", nennt Görtler die wesentlichen Erfolgsfaktoren. Er selbst ist aber nicht nur ein zufällig passendes Mosaiksteinchen, sondern füllt die ihm zugedachte Rolle als Führungskraft von Anfang an aus. Überraschend kommt diese Wandlung nicht.