So funktioniert Sprachunterricht für Flüchtlingskinder
Autor: Sabine Christofzik
Hirschaid, Montag, 12. Oktober 2015
Sie kennen zum Teil nicht einmal die Buchstaben, mit denen deutsch geschrieben wird und sitzen in den Regelklassen. Doch die Kinder sollen möglichst schnell aktiv am Unterricht in ihrer Jahrgangsstufe teilnehmen. Ein Besuch bei einer Lerngruppe in der Grund- und Mittelschule Hirschaid.
Der Pfeil aus gelbem Papier zeigt, wo's langgeht. Von links nach rechts. Das allerdings ist nicht die Richtung, in die Edris und Elyas gewohnt sind zu lesen und zu schreiben. Der gelbe Pfeil ist neu für den Fünft- und den Sechstklässler.
Und er ist neu für Anna Birklein. Vielen Kindern hat die Förderlehrerin schon Deutsch als Fremdsprache beigebracht. Immer von links nach rechts. Edris und Elyas kommen aus Afghanistan. Dort schreibt man arabische Buchstaben. Von rechts nach links.
Hristiana aus der dritten Klasse wartet schon an der Zimmertür. Ihre Tutorin hat sie hergebracht. Wer noch fehlt, sind die beiden Jungen. Anna Birklein geht sie "einsammeln" auf den Fluren der Grund- und Mittelschule Hirschaid. Sie hat Verständnis: "Das ist doch klar. Wenn man neu an eine Schule kommt, dauert es eine ganze Weile, bis man sich zurechtgefunden hat. Und wenn man dann alles Geschriebene, was den Weg weisen könnte, auch nicht lesen kann ..."
Eigentlich sollte noch Adriano aus Italien am Sprachunterricht teilnehmen. Dann wäre die Gruppe komplett. Aber er ist an diesem Tag krank.
Zusätzliche Barriere
Das Schuljahr ist noch jung und Anna Birklein hat mit diesem Quartett bei null begonnen. Elyas ist der Neueste der Neuzugänge. Er hat zumindest einen kleinen Vorteil: Edris kann ihm auf Afghanisch erklären, was so läuft im Deutschunterricht.Wer die Buchstaben in seiner Muttersprache - und auch die Zahlen - in einer anderen Schrift schreibt, ist im Hintertreffen. Das kennt auch Anna Birklein. "Als ich meine ersten Wörter auf Russisch gelernt habe - oh je!" Die unbekannte Schrift als zusätzliche Barriere. "Es ist", sagt die Förderlehrerin und schnauft durch, "eine Riesenherausforderung. Für Schüler und Lehrkräfte. Weil erstmal keine gemeinsame Ebene da ist."
Formen, Farben, Bilder
Deshalb müssen zunächst Formen, Farben und Bilder das vermitteln, was die Sprache noch nicht vermag. Hristiana und Edris kennen die Kärtchen, auf denen Gegenstände aus dem Schulalltag abgebildet sind, schon gut. Auch die Papierstreifen mit den bunten Spitzen, auf denen die dazugehörigen Artikel stehen. Wiederholt wird, dass es der Bleistift, das Heft, die Schere und das Mäppchen heißt. Es kommen neue Begriffe dazu. Sie werden erst auf dem Schultisch einander zugeordnet, dann, mit einer anderen Aufgabenstellung, an der Magnettafel. Und immer wird gesprochen dabei, das deutsche Wort für den bildlich dargestellten Begriff wieder und wieder geübt.
Vollkommen selbstständig handeln die Kinder dann beim Blitz-"Lesen". Die Bildkarten liegen auf dem Tisch, Schüler und Lehrerin halten Fliegenklatschen in den Händen, die so schnell wie möglich auf die richtige Abbildung sausen sollen, sobald der Begriff fällt. Jedes Kind darf mal "ansagen".
Was kann man verlangen?
Mit Michaela Weiß ist in dieser Stunde eine zweite Lehrkraft mit im Raum. Sie schätzt mit einem nonverbalen Test die Fähigkeiten der Schüler in der Anfängergruppe ein. Ein Formen- und Farben-Steckspiel, bei dem Aufgaben nach immer anspruchsvolleren Vorgaben gelöst werden müssen, und ein Bildkarten-Legen, bei dem Zuordnungs- und Merkfähigkeit, Auffassungs- und Kombinationsgabe beobachtet werden. Dabei achtet sie auch auf Augenbewegung und die Motorik der Hände. "Wir müssen zu Anfang schauen, was jeder Schüler kann und was wir von ihm überhaupt fordern können", erläutert die Grundschullehrerin.
Hristiana aus Bulgarien erledigt diese Aufgaben blitzschnell und präzise. Auch Edris später weiß sofort, was er machen soll - aber er fängt auf der "falschen" Seite an. Michaela Weiß steht auf und holt den gelben Pfeil vom anderen Tisch.
Der Löffel hilft beim Lernen
Mit Großbuchstaben, Bildkarten und Gegenständen arbeitet sich Anna Birklein zusammen mit den Buben durch die Buchstabenfolge ihrer Vornamen. Der Elefant, die Dose, das Rad, der Igel und die Sonne stehen für die lateinischen Lettern in Edris' Namen. Er kann dazu Dinge aus dem Schulzimmer auf den Tisch holen. Und auch bei Elyas, für den alles noch viel neuer ist, zeigt sich ein Lächeln, als er erkennt, dass sein Name ebenfalls mit einem Elefanten anfängt und mit einer Sonne aufhört.Auch Farben und Zahlen haben ihren Platz in dieser Unterrichtsstunde. Hristiana ist schon fit im zweistelligen Bereich. Nur mit dreizehn und dreißig, vierzehn und vierzig gibt es noch ein kleines Problem.
"Ich gebe nicht auf"
Anna Birklein hat längst ihre Jacke ausgezogen. Ihr ist warm geworden bei so viel Körpereinsatz und Bewegung. Auch die Notwendigkeit überdeutlicher Aussprache, ständiger Ansprache und Blickkontakts mit den Kindern verlangen ihr mehr ab als in anderen Unterrichtsstunden. "In manchen Momenten frage ich mich, ob es nicht vielleicht doch aussichtslos ist, bei einigen. Aber man muss dranbleiben. Vieles ist auch für uns Lehrer neu. Und dann sieht man, dass die Kinder lernen wollen. Dass viele auch wirklich ganz schnell lernen. Mit einigen meiner Schüler aus dem letzten Jahr kann ich mich jetzt schon prima unterhalten. Ich gebe nicht auf!"
In der Grund- und Mittelschule Hirschaid pauken Kinder aus zehn Nationen Deutsch: Chile, Ukraine, Kasachstan, Aserbeidschan, Afghanistan, Armenien, Bulgarien, Ungarn, Polen, Italien und Thailand. Die vier Lerngruppen sind nach Kenntnisstand zusammengestellt, nicht nach dem Alter der Schüler.
Tutoren helfen
Tutoren aus den jeweiligen Klassen kümmern sich um die Mitschüler, die erst noch Deutsch lernen müssen. Sie holen Arbeitsblätter bei der Förderlehrerin ab, lernen mit mit ihren neuen Klassenkameraden und begleiten sie auch durchs Schulhaus, zum Beispiel bis zum Raum, in dem der Förderunterricht stattfindet. "Die Sprachförderstunden sind möglichst so gelegt, dass wir die Schüler nicht aus den Stunden mit den praktischen Fächern herausholen. Denn das sind die, in denen sie am ehesten schon etwas selbstständig machen können", sagt Rektor Christian Neundörfer.
"Für die Mittelschule sind fünf Förderstunden bewilligt, für die Grundschule keine. Wir organisieren das trotzdem mit unseren Lehrkräften auch für die jüngeren Schüler. Die älteren, die bald ins Berufsleben gehen, haben allerdings mehr Stunden als die Grundschüler."