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Jonathan Nott spricht über seine Zeit in Bamberg


Autor: Rudolf Görtler

Bamberg, Freitag, 01. Juli 2016

Jonathan Nott spricht über seine Zeit mit den Bamberger Symphonikern und seine Pläne für die Zukunft.
Jonathan Nott Foto: Barbara Herbst


MGO: Was geht Ihnen in diesen Tagen durch den Kopf?
Jonathan Nott: Man denkt immer nur an Vergangenheit und Abgang, aber Zeit geht von unten nach oben. Also man steht immer auf seiner eigenen Vergangenheit, und ob man hier ist für 16 Jahre oder irgendwo anders - die Erinnerungen und Erfahrungen sind immer da. Deswegen finde ich nicht, dass es ein Abgang oder ein Ende ist. Ich rede nicht nur über die Musiker, sondern auch über die Leute, die 16 Jahre ins Konzert gekommen sind. Sie kommen zu mir, klopfen mir auf die Schulter, bedanken sich - also die Bamberger Symphoniker sind nicht nur die Leute, die Musik gemacht haben. Außerdem habe ich mir lange überlegt, was ich dem Orchester schenke nach den 16 Jahren. Schließlich habe ich einen Baum ausgesucht, einen japanischen Ahorn. Er steht zurzeit (das Interview wurde am 29. Juni geführt, d.

Red.) bei der Skulptur "Dreiklang" vor der Bamberger Konzerthalle.

Wenn Sie am Samstag den Schlussapplaus im Dom entgegennehmen: Wird da eine Träne bei Ihnen im Augenwinkel hängen?
Bestimmt! Ich glaube aber, nach 16 Jahren ist jetzt ein guter Zeitpunkt für Neues. Ich habe für mich immer gesagt: Es ist schön, dass wir immer noch miteinander reden können, und wir haben schöne Musik zusammen gemacht. Leben und Musik gehören zusammen, und wir alle haben uns verändert. Es ist auch eine Gelegenheit, sich neu zu definieren, eine Gelegenheit, sich neu zu entwickeln. Also ist es insofern etwas Positives, dass ich rausgehe. Tränen kamen mir beim Dirigentenwettbewerb, denn da musste ich ständig dieses Orchester hören und die Musik, die wir sehr gut miteinander gemacht haben. Den letzten Satz der 3. Mahler zehnmal hintereinander zu hören: Das fand ich sehr, sehr anstrengend. Ich wünsche dem Orchester natürlich die tolle Zukunft, die es verdient hat, deswegen soll man auch nicht allzu viele Tränen vergießen.

16 Jahre in Bamberg, eine lange Ära in diesen Zeiten. Was wird Ihnen besonders in Erinnerung bleiben? Welche Höhepunkte gab es?
Bei mir daheim hängt im Flur ein Plakat von unserer Zeit in Edinburgh, wo wir fünf verschiedene Konzerte in sechs Tagen gespielt haben, eins war der gesamte Tristan. Jedesmal wenn ich an dem Plakat vorbeigehe, bekomme ich Angst, denn es ist eigentlich unmöglich, das kann kein Orchester mehr machen. Das haben wir doch geschafft, und wir haben es toll geschafft gerade nach einer ersten Zeit des Zusammenwachsens. Das war eine echte Herausforderung. Dann in Luzern den Ring, Così fan tutte hier, das fand ich auch schön, und dann mehrmals Mahler und Schubert: Da zeigt es sich, dass man Leben und Musik nicht trennen kann. Hier diese großen Stücke, bei denen wir über Jahre miteinander experimentiert und versucht haben, jedesmal neu zu definieren. Meine Absicht war immer, dass man sich nie zurücklehnen darf. Man ist nur so gut wie das letzte Konzert.

Gab es auch etwas, was Ihnen weniger gefallen hat?
Mir ging es immer darum, den tollen Klang des Orchesters beizubehalten, zu erweitern in dem Sinne, dass man nicht immer den gleichen Klang nutzt für jede Epoche. Dass man den Klang und die Spielfreude mitnimmt. Ich habe immer gesagt: Nur weil der Anfang des Taktes so ist, heißt das nicht, dass der Schluss des Taktes so sein muss. Diese Flexibilität ist ein Kunstwerk, an dem wir gemeinsam gearbeitet haben. Natürlich ist auch manches nicht so gut gelungen. Die größte Angst als Dirigent ist, dass man eine Geste gibt und niemand reagiert. Das ist schon mal passiert. Dann habe ich gelernt, dass Dirigieren eher ein gedankliches als ein gestisches Spiel ist. Man kennt sich, man verliebt sich ineinander ohne Wörter rein durch die Musik. Je besser wir zusammenwachsen, desto weniger muss ich zeigen. Je weniger ich zeige, desto mehr wird im Unterbewusstsein kreiert, und eine Intimität zwischen 100 Leuten entsteht.

Zeichnet sich das Bamberger Publikum durch besondere Treue aus?
Ja, natürlich. Zehn Prozent der Bevölkerung haben ein Abonnement. Das Musikgeschehen teilt sich in zwei Hälften: die eine die Musiker, die andere das Publikum, das mitgestaltet. Ich bin sicher, dass das Publikum auch die Aufführung mitgestaltet. Ich spüre das nur in meinem Rücken. Wenn es konzentriert ist und folgt - das beeinflusst auch uns. Wir spielen überall in der Welt, aber das Publikum hier ist ein besonderes, sehr aufmerksam, sehr erfahren und offen. Das hat mich auch beeindruckt, diese Offenheit. Denn es waren schon anspruchsvolle Programme dabei. Ich war nie der Meinung, dass man zeitgenössische Musik so foltermäßig durchsetzen soll. Ich war offen dafür, nie fanatisch, aber in einige Stücke habe ich mich regelrecht verliebt. Vielleicht konnte ich das an die Musiker vermitteln und durch die dann ans Publikum. Wenn sie Angst bekommen, dann husten sie. Aber das ist alles okay, wir sind alle nur Menschen hier. Wenn man nur auf Klänge hört, braucht man nicht mehr zu husten, keine Angst mehr zu haben. Denn Klänge bewegen ein menschliches Leben immer im positiven Sinne. Ich habe gesagt: Ich will, dass wir mehr vertraut werden mit der Musik unserer Zeit. Und wenn wir das geschafft haben, hören wir Brahms oder Mahler mit anderen Ohren und genießen sie mehr. Ich glaube, das braucht eine Vertrauensbasis, und ich glaube, dieses Vertrauen kam hier sehr schnell. Es ist ein Teil von Bamberg, diese sprechenden Steine, die überall sind, eine gewisse Einigkeit mit der Vergangenheit, das gehört zu Bamberg, ein sehr besonderer Ort.

Sie übernehmen nun das Orchestre de la Suisse Romande, leiten aber auch das Tokyo Symphony Orchestra, kümmern sich um die Junge Deutsche Philharmonie. Sind Sie nun endgültig in die Liga der um die Welt jettenden Dirigenten aufgestiegen? ?
Ich bin Musiker und in gewisser Weise Botschafter. Die Beziehung, die zu Tokyo aufgebaut ist - man darf nicht vergessen, das Orchester war des Öfteren in Japan - man merkt schon, mit welcher Sorgfalt die Leute dort Musik hören. Und je flexibler wir sind, je feiner wir spielen, je größer unsere Palette von Farben ist, desto mehr Information können wir vermitteln, und das braucht natürlich entsprechende Zuhörer. Ich traf dieses Orchester in Japan, und die haben innerhalb von drei, vier Tagen gesagt: Wir möchten diese Person als unseren Chefdirigenten. Das Gleiche ist passiert bei der Jungen Deutschen Philharmonie und bei Suisse Romande. Das fand ich sehr rührend. Die Gelegenheit sich schnell zu entscheiden, dass eine Beziehung machbar ist. Die Welt ist kleiner geworden, und Musik ist eine Weltsprache. Das ist der Grund, warum ich jetzt plötzlich Chefdirigent verschiedener Orchester bin.

Wo werden Ihre künftigen künstlerischen Schwerpunkte liegen? Eher Musiktheater, zeitgenössische Musik oder das klassische Repertoire?
In meiner Jugend wollte ich nicht unbedingt Dirigent werden. Mich hat das gesangliche Element, was man mit dem menschlichen Körper machen kann durch Gesang, sehr berührend. Später bin ich in den Opernbetrieb hineingekommen, und ich bin dankbar, dass es in Deutschland so viele Möglichkeiten gibt. Die ersten zwölf Jahre habe ich eigentlich in Opernhäusern verbracht, und dann fragt man nicht mehr, ob man dirigieren kann oder nicht, denn Opern sind große Betriebe und man muss vieles gleichzeitig bedienen. Bamberg kam mitten in diese Opernzeit, aber von 1988 bis 2005 bin ich Chef von Opernorchestern gewesen. In den 16 Jahren hier haben wir viele konzertante Opern gemacht, zweimal Tristan, alle 18 Monate eine Oper, glaube ich, leider meist immer nur eine Aufführung. Die Operntätigkeit lag mir immer am Herzen so wie den Wiener Philharmonikern, die 50 Prozent ihrer Zeit Opern spielen. Ich muss mich mit dem Musiktheater auseinandersetzen, wie soll man es spielen, wie aktuell kann es sein? In der Philosophie einer Symphonie von Mahler oder Bruckner bin ich völlig frei. Wenn ich konfrontiert bin mit der Gestaltung einer Oper, bin ich überhaupt nicht frei. Als ich mich vor drei Jahren entschieden habe, aus Bamberg wegzugehen, war klar, dass ich mich neu definieren muss.

Sie sind also nicht aus Abneigung gegen Bamberg gegangen?
Um Gottes Willen, im Gegenteil. Aber es gehört zum menschlichen Leben, Sachen abgeben zu können, ständiges Abgeben. Gleichzeitig die ständige Konfrontation mit der Unsicherheit. Ich hatte immer nur auf wenige Jahre beschränkte Verträge, absolut keine Sicherheit. Wenn ich krank bin, bekomme ich kein Geld, ich habe keine Rentenversicherung. Aber das gefällt mir, weil es mich zwingt, mich immer neu erfinden zu müssen. Was jetzt stattfindet, die Symphoniker müssen sich auf ihre Stärken besinnen: Sind wir deutsche oder böhmische Musiker, was wollen wir? Alle diese Fragen werden nur Positives nach sich ziehen. Dann habe ich mich entschieden, das so zu machen, und irgendwann kam diese Gelegenheit in Genf, und jetzt muss ich versuchen, alles was ich hier gelernt habe und was ich als Geschenk bekommen habe, mitzunehmen und mit anderen Menschen andere Perspektiven zu entwickeln. Die französische Musik hat mich von Jugend an sehr fasziniert, weil es jugendliche Musik ist, expressionistisch, und jetzt muss ich mit dem Genfer Orchester neu anfangen. Was ich mitnehme, ist die Erfahrung, der klangliche Liebreiz. Man kann jedes Orchester ein bisschen anders biegen. Ich will in Genf 16 Jahre innerhalb von 16 Monaten schaffen. Das ist der Punkt.


Besteht ein Zusammenhang zwischen der Monumentalität von Bruckners 8. am Samstag im Bamberger Dom und Ihrem Abschied? Wollen Sie noch einmal einen unvergesslichen Schlusspunkt setzen?
Definitiv. Es zeichnet ein Weltklasseorchester aus, nicht nur ein beschränktes Repertoire zu spielen, sondern offen für alles zu sein, und ich dachte, es wäre schön, wenn wir noch ein neues Stück als letztes Konzert machen. Und diese Symphonie nach dem Abschied von den Abonnenten mit Ligeti und Strauss - ich wollte mich noch einem Plus, plus eins verabschieden.

Ist das Konzert das letzte Wort für Ihr Publikum, oder wollen Sie Ihrem Bamberger Publikum noch etwas mitteilen?
Ich möchte diesem Orchester ein Wort der Dankbarkeit sagen, für dieses Zusammenkommen. Dankbarkeit und toi, toi, toi! Ich bin immer bei diesem Publikum. Es hat denselben Platz in meiner Seele wie das Orchester selbst. Allerdings werde ich nicht sofort zurückkommen. Wir haben sowieso zwei Ehrendirigenten und einen neuen Chefdirigenten ... Vielleicht mit der Jungen Deutschen Philharmonie, dessen Erster Betreuer ich bin. Die Bamberger Symphoniker unterhalten eine Patenschaft zu diesem Jugendorchester. Ich habe immer noch meine Wohnung hier. Ich bin hier zu Hause in Bamberg, das gebe ich nicht auf. Ich möchte nicht weggehen vom Publikum, dennoch muss es so wie das Orchester den nächsten Schritt alleine machen können. Es ist unmöglich zu sagen: Ciao, Bamberg.

Eine letzte, fast unvermeidliche Frage: Was fällt Ihnen zu Brexit ein?

Seit 20 Jahren lebe ich in der Schweiz. Als ich zu Brexit gefragt wurde, habe ich gesagt: Ich schäme mich. Mehr als die Hälfte meines Lebens lebe ich im deutschsprachigen Raum, in Europa. Ich betrachte mich als Europäer. Die Inselmentalität habe ich immer sehr gehasst. Ich fühle mich in Deutschland mehr zu Hause als in England, und jetzt gehe ich in französischsprachigen Raum. Das Plus für Europa ist, dass man auf so kleiner Fläche so viele verschiedene Sprachen und Kulturen und Vergangenheit findet. Deswegen bin ich stolzer Europäer. Aber: Der Brexit ist nicht nur schlecht, er wird uns klarmachen, wofür wir stehen. Alles was kommt im Leben, ist gut.