Heute gibt es keine "Watschn" mehr
Autor: Marion Krüger-Hundrup
Bamberg, Dienstag, 06. Juni 2017
Neugierig verfolgten die Kinder an der Gangolfschule, wie ehemalige Schüler aus den 1947er Jahren ihr Klassentreffen erlebten.
           
An diesem Morgen regnet es in Strömen. Und doch bringen die Buben und Mädchen der dritten Klasse es fertig, Wärme zu verbreiten: "Ich lieb den Frühling, ich lieb den Sonnenschein...!" schmettern die Kinder zur Begrüßung der Seniorenriege, die der Gangolfschule an der Luitpoldstraße einen Besuch abstatten. Und zwar nicht einfach nur so, sondern um ihre einstige Bildungsanstalt nach 70 Jahren (!) wiederzusehen. Klassentreffen ist in Bamberg angesagt. Und etliche der ehemaligen fast 50 Kameraden sind dabei.
Rektor Norbert Bocksch lässt es sich nicht nehmen, die älteren Herren samt einigen Ehefrauen willkommen zu heißen und durch die Schule zu führen. Das Gebäude wird derzeit teilsaniert - etwa die Toilettenanlagen erneuert -, was aber den Unterrichtsablauf nicht beeinträchtigt. Das versichert jedenfalls der Rektor, der sich über seine besonderen Gäste aus früherer Zeit sichtlich freut.
"Die Gangolfschule ist die einzige Grundschule in Bamberg mit gebundenen Ganztagsklassen", erzählt Bocksch bei dem Rundgang. Und nennt Zahlen: 175 Schüler und Schülerinnen aus 21 Nationalitäten, 23 Lehrer. In zusätzlich 22 Wochenstunden unterrichten vier entsprechend ausgebildete Lehrer Deutsch als Zweitsprache. Aus Rücksichtnahme auf die muslimischen Kinder gibt es beim Mittagessen im Speisesaal kein Gericht mit Schweinefleisch.
Die Klassentreffler hören solche Details mit Staunen. "Früher waren wir alle nur katholisch, auf katholische Unterweisung wurde von unseren Lehrern sehr viel Wert gelegt und auch Zeit darauf verwendet", erinnert sich etwa der 75-jährige Gerd Ranwig. Und auch daran, dass es gerade vom Religionslehrer immer wieder eine "deftige Watschn" gab oder von anderen Lehrkräften "etwas mit dem Stöckchen auf den Po nach Streichen!"
"Körperliche Züchtigungen sind heute undenkbar", versichert der Rektor, während die 17 jungen Schüler der Klasse 4b aufmerksam lauschen. Der elfjährige Timo findet den Besuch der Oldies "einfach cool!" Und sein Tischnachbar Marco (11) meint, es sei "schön, dass die, die aus der Schule raus sind, wieder mal reinschauen!" Die Senioren schauen sich interessiert im Klassenzimmer um. "Früher gab es Pulte, die auf Schienen fest installiert waren, und nicht so niedliche Kinderstühlchen wie heute", sagt Ranwig. Und ein PC-Raum mit Computerarbeitsplätzen sei schon gar nicht vorstellbar gewesen.
  
  Duschen in Turnhosen
 
Rektor Bocksch bringt die Besuchergruppe in die Turnhalle, in der quirliges Tollen und Treiben an den Geräten herrscht. Der 76-jährige Manfred Spies erzählt von dem früheren Schwimmbad in der Gangolfschule - "mehr ein Planschbecken". Und dass sich die Buben vor dem Eintauchen ins Becken "in schwarzen Turnhosen geduscht haben, verschämt wie man damals war".Feuchte Augen vor Rührung bekommt der eine oder andere, als er in seinem ehemaligen Klassenzimmer steht, das es noch immer gibt. Beim Blick durch die Fenster in den Schulhof mit Spielplatz taucht vor dem inneren Auge wieder der klapprige Wagen des Bäckers auf, der in den Pausen "für ein Zehnerla" Brezn an die hungrigen Schüler verkauft hat. Dazu habe es "blaue Magermilch als Schulspeisung gegeben", wirft Spies ein.
Musik-, Kunst und Werken-AGs, der Schulgarten: Rektor Bocksch berichtet mit einem gewissen Stolz von verschiedenen Aktions- und Spielangeboten in der Ganztagsbetreuung durch die gfi. Im Ruhebereich können sich die Kinder entspannen und Bücher lesen. Stolz kann der Rektor auch darauf sein, dass bei all den pädagogisch-menschlichen Bemühungen etwa die Übertrittzahlen der Kinder mit Migrationshintergrund genauso hoch sind wie die der deutschen. Einzelförderung je nach Begabung und Fähigkeit, Integration werden groß geschrieben an der Gangolfschule.
Das muss schon damals so gewesen sein in der "Schule an der Eisenbahnstraße", wie die 1873 bis 1876 gebaute Gangolfschule einmal hieß. "Aus uns allen ist etwas geworden", resümiert Gerd Ranwig, der selbst studiert hat und Lehrer geworden ist.
  
  Kurze Hosen, lange Strümpfe, Care-Pakete
 
Der 75-jährige Gerd Ranwig, der heute in Erlangen lebt, hat das Klassentreffen in der Gangolfschule organisiert. Er kann sich noch gut an die ersten Schuljahre ab 1947 erinnern.Wie war es damals, vor 70 Jahren, als Sie in Bamberg eingeschult wurden?
Gerd Ranwig: Es herrschte so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein große Not. Wohnraum war knapp, Kleidung und Nahrung gab es nur auf Marken, einfach ins Geschäft gehen und kaufen, ging nicht.
In welchem Outfit sind Sie denn in die Schule gegangen?
Da es auch für Kinder keine Kleidung zu kaufen gab, nähte mir meine Großmutter aus irgendwelchen Stoffresten eine kurze Hose, für eine lange hat der Stoff nicht gereicht. Damit mir nicht kalt war, strickte mir Oma lange Strümpfe, gehalten durch ein Leibchen, das unter der Hose getragen wurde und von dem Bänder nach unten zu den Oberschenkeln reichten. Daran wurden die Strümpfe festgemacht. Da alles sehr knapp bemessen war, zeigte sich zwischen Hose und Strumpf blanke Haut. Auch die Haltebänder waren zu sehen. So musste ich in die Schule gehen, Wie habe ich mich geschämt! Ein Bub in Mädchenstrümpfen!
Haben die Mädchen Sie gehänselt?
Wir waren eine reine Bubenklasse. Es war damals in Bamberg üblich, die Geschlechter in der Schule zu trennen. Dass es auch Mädchen in unserer Schule gab, fiel mir erst auf, als wir in der dritten Klasse zur Erstkommunion gingen. Da sah ich erstmals Mädchen in weißen Kommunionkleidern.
Was war damals noch anders als in der heutigen Schulzeit?
Wir alle litten Hunger. Die Lebensmittel waren ja rationiert, die Zuteilungen von Marken reichten nicht aus. Wir Schüler der Gangolfschule bekamen immerhin eine Schulspeisung. Denn die Glaubensgemeinschaft der Quäker in Amerika sandte uns Care-Pakete. Wir bekamen einen süßlichen Maisbrei, der mit Rosinen gespickt war. Ich persönlich mochte diesen Brei nicht besonders, da er nach meinem Geschmack zu süß war. Doch Hunger ist bekanntlich der beste Koch.
Wie erleben Sie es, nach 70 Jahren wieder in Ihre alte Schule zurückzukehren?
Es ist ein sehr emotionaler Moment! Erinnerungen kommen hoch und Dankbarkeit, dass die Buben und Mädchen heute bessere Bedingungen haben als wir damals. Aber schön war die Kinderzeit trotz allem!