Herrn Kobels Flucht ins Klischee
Autor: Martin Kreklau
Bamberg, Samstag, 05. November 2016
Seit seiner Zeit als GI in Bamberg verbindet den New Yorker James Kobel mit Deutschland eine große Liebe - doch etwas hindert ihn an der Rückkehr.
James Kobel lehnt nach dem vierten Bier über dem Tresen im "Zum Schneider" auf Manhattans Lower Eastside. Gedankenverloren starrt er an die Wand mit den König-Ludwig-Devotionalien. Als sein Blick auf die vielen Bierkrüge fällt sagt er: "Davon habe ich zu Hause mehr." Das blaue Trachtenhemd mit den weißen Karos spannt über seinem Bauch, seine Lederhose hält alles zusammen. 1988 kam der New Yorker als Soldat nach Bamberg und verliebte sich in die Stadt. Seitdem quält ihn die Sehnsucht - und stellt ihn innerlich vor eine Zerreißprobe.
Kobels Geschichte beginnt 1966 in Queens. Er ist das jüngste von dreizehn Geschwistern und lebt mit seinen Brüdern, Schwestern und Eltern in einem kleinen Haus mit drei Schlafzimmern in Elmhurst. Ein Viertel, in dem damals viele deutschstämmige Amerikaner wohnen. "Auch meine Eltern hatten deutsche Vorfahren, in sechster oder siebter Generation. Die sind so um 1840 in die Staaten gekommen", sagt Kobel. Für ihn ist selbstverständlich: "Ich bin Deutscher."
Weißbier auf der Lower Eastside
Um das zu feiern, kommt er regelmäßig ins "Zum Schneider - Munich on the Eastriver". Es stinkt nach Bratwurst und Schnitzel, Bierdunst wabert auf die Straßen der Lower Eastside. Aus den Boxen dröhnt blechern die Humtata-Musik: "Mir san die lustigen Holzhacker-Buam." Grimmige, tätowierte Männer mit Bart, tief ins Gesicht gezogener Mütze und Baggy-Pants schlendern am Fenster vorbei. "Mir gefällt hier, dass alles original Deutsch ist", sagt Kobel. Er teilt diese Ansicht mit einer Gruppe von zehn Japanern, die sich um einen einzelnen Maßkrug drängt, tuschelt, kichert, Fotos schießt. Kobel lächelt von seinem Barhocker auf sie herab.Nach der High School fühlt sich Kobel verloren. Er verdingt sich als Aushilfe in einer Bar, die zwei seiner Brüder gehört, oder arbeitet als Sicherheitsmann bei Macy's. Und er kocht. Eine Arbeitskollegin schenkt ihm ein Buch mit deutschen Rezepten. Noch heute bekocht er Freunde und Familie daraus. Sie sagen, er hätte lieber Koch statt Klempner werden sollen. Doch niemand, auch nicht er selbst, schiebt ihn an. Statt eine Ausbildung zu beginnen, meldet sich Kobel freiwillig zur Armee. Den Einsatzort dürfen die Soldaten selbst bestimmen. Er geht nach Deutschland. "Ich wollte wissen, wo meine Vorfahren herkommen."
Kobel bestellt die nächste Runde. Inzwischen ist es Nacht geworden, das Lokal hat sich gefüllt. Die Bar und die Wände sind in grünes, rotes und gelbes Licht getaucht. Die Humtata-Dauerschleife aus den Lautsprechern ist verstummt, stattdessen laufen laute Popsongs. Als hätte ein Windstoß die deutschtümelnde Gemütlichkeit aus dem Raum geblasen und ihn mit New Yorker Luft gefüllt.
"Ein typischer Amerikaner"
Die neuen Soldaten in Bamberg besuchen einen Vorbereitungskurs. Hier lernen sie, sich Frauen gegenüber zu benehmen, das politische System zu verstehen oder beim Bäcker ein Brötchen zu bestellen. Auch deutsche Geschichte steht auf dem Stundenplan. Kobel saugt jedes Wort auf, begierig, alles über das Land zu erfahren. Den Sprachkurs bricht er hingegen ab: "Ich wurde zu einem typischen Amerikaner. Ich dachte: ,Fast jeder hier spricht Englisch, wieso sollte ich Deutsch lernen?‘" Eine Einstellung, die er inzwischen bereut.Staunend geht Kobel 1988 durch Bamberg, fasziniert von den Fachwerkhäuschen, Burgen und den Bergen in der Fränkischen Schweiz. Die Stadt ist überschaubar und geordnet. "Alles war an seinem Platz und vor allem: sauber. Das war in New York anders." Er verliebt sich in die Kleinstadt.
Doch Kobels beschauliches Leben in Bamberg nimmt ein jähes Ende. Nach drei Jahren, 1991, wird er mit seiner Einheit an den Persischen Golf verlegt. Sechs Monate verbringt er im Kampfeinsatz in Kuwait, als Mechaniker bei der Artillerie, repariert Feldgeschütze. "Haubitze", sagt Kobel auf deutsch. Seine Bilanz dieser Zeit? Er streicht sich mit der Hand durch den dichten Bart, der seinen Mund einrahmt. "Krieg ist scheiße", sagt er. Außerdem habe er gespürt, wie sehr er seine Familie vermisst. Es ging für ihn raus aus der Army und zurück in die Vereinigten Staaten.
Das Leben wartet nicht
Aber das Leben in New York hat nicht auf ihn gewartet. Er versucht, an alte Träume anzuknüpfen, geht auf eine Schule für Gastronomen, will ein eigenes Restaurant eröffnen, verdient Geld in der Bar seiner Brüder - und scheitert erneut. Der kleine Lohn reicht nicht, um die teure Ausbildung zu finanzieren. Er hat es satt, seinem Vater auf der Tasche zu liegen. Und dann ist da sein älterer Bruder, der sagt: "Koch? Das ist doch kein richtiger Beruf." Er überredet James in die Klempner-Firma zu wechseln, in der er arbeitet.Kobel sagt, er trauere der verpassten Chance nicht hinterher, sei zufrieden mit seinem Leben: mit einem eigenen Klempner-Unternehmen, mit einer Frau, zwei Kindern und einem Haus in den Hamptons, eine Autostunde von Manhattan. Und doch: "Wenn mich jemand fragen würde, in welchem Land der Welt ich leben wollen würde, dann würde ich Deutschland sagen." Seine Sehnsucht lässt ihn nicht los: Er besucht einen Deutschkurs, hört deutsches Radio, kocht deutsch und sein Smartphone zeigt neben der amerikanischen auch die deutsche Zeit an.
2016 kehrt er in seine zweite Heimat zurück, ein Geschenk zum 50. Geburtstag. "Meine Frau musste mich bremsen, weil ich so aufgeregt war." Er kauft sich eine Lederhose mit Trachtenhemd. Für Franken eher untypisch, doch er liebt die Kleidung, würde sie am liebsten auch bei der Arbeit tragen. "Aber da würde sie schmutzig werden." Auf der Reise hört er das schönste Kompliment: In einem Gasthof isst er eine Haxe, seine Frau probiert und sagt: "Die schmeckt wie die, die du kochst."
Der Duft von Weihnachten
Was vermisst er an Deutschland am meisten? Kobel rutscht auf dem Barhocker hin und her und zupft sich am Trachtenhemd. Als er aufblickt, taucht ein Scheinwerfer seine Augen in gelbes Licht. In ihnen liegt Wehmut. Jetzt weiß er, was er am meisten vermisst: "Den Duft von Weihnachten. Wenn jeder seinen Ofen anschürt und es nach Lebkuchen und Glühwein riecht."
Wäre er in Deutschland, würde er Meer und Strand vermissen, die direkt vor seiner Haustüre liegen. Kobel kann sich nicht entscheiden - und bleibt ein Gefangener zwischen zwei Welten.