Druckartikel: Franken drehten am Rad

Franken drehten am Rad


Autor: Günter Flegel

Bamberg, Donnerstag, 01. Juni 2017

Vor genau 200 Jahren, 1817, schlug die Geburtsstunde des Fahrrads. Die ganz großen Sprünge machte das Veloziped dank findiger Tüftler in Franken.
Ernst Sachs mit einem Hochrad um 1885  Foto: Archiv


G äbe es ihn, seine Nachfahren wären wahrscheinlich die reichsten Menschen der Welt: Nur kann niemand sagen, wer denn nun genau wann das Fahrrad erfunden hat, das mit schätzungsweise 1,5 Milliarden Stück rund um den Globus dem Auto immer noch den Rang abläuft bzw. -fährt.
Die Erfolgsstory der Bewegung auf zwei Rädern beginnt nicht mit dem Geistesblitz eines einzigen Tüftlers. Sie ist ein Musterbeispiel dafür, wie aus einer Vielzahl von einzelnen Erfindungen und durch deren laufende Verbesserung ein vollkommenes Produkt entsteht. Es war beim Rad wie beim Ei des Kolumbus: Es war eigentlich da, und jeder hätte es machen können. Nur gemacht werden musste es eben.
Als Urahn des Fahrrads gilt die Laufmaschine des Pfälzer Forstbeamten Karl Friedrich Christian Ludwig Freiherr Drais von Sauerbronn (dessen Vater aus dem mittelfränkischen Ansbach stammte). Er wurde 1785 in Karlsruhe geboren. Drais' erste Draisine war ein "Wagen ohne Pferd" für die Fahrt auf Eisenbahnschienen.


Als das Holz das Laufen lernte

1817 hatte Drais eine neue Idee. Er verzichtete auf zwei der vier Räder und entwarf eine lenkbare hölzerne Laufmaschine, mit der sich ein beträchtliches Tempo erzielen ließ. Drais selbst schreibt, dass er eine Strecke, die vier Postkutschen-Stunden erforderte, in einer Stunde "radeln" konnte. Die erste Fahrt mit dem hölzernen Ur-Radl fand am 12. Juni 1817 statt.

Um Drais und seine Maschine rankt sich manche Legende - etwa zu der Frage, was den Forstbeamten zu seiner Erfindung motivierte. Lange wurde Drais' Idee mit dem "Jahr ohne Sommer" 1816 in Verbindung gebracht. Die Ernte fiel ins Wasser, es gab eine Hungersnot und für die Nutztiere nicht genug Futter. Deshalb habe Drais nach alternativen Fortbewegungsmethoden gesucht. Der Zusammenhang wird heute nicht mehr gesehen, denn Drais' Laufmaschine konnte ein Pferd als Zugtier nicht ersetzen.
Das Rad des Freiherrn aus Mannheim erlebte nur eine kurze Blütezeit. Zunächst blieb der Erfinder auf der Strecke, weil seine Maschine überall nachgebaut wurde. Und: Der Einsatz der Draisine führte zu Konflikten, weil die schlechten Straßen für die Laufmaschinen ungeeignet waren. Die Draisinen sausten über die Gehwege, wo es oft zu Zusammenstößen mit Fußgängern kam. In vielen Städten wurde die Draisine verboten.
Ihre Renaissance erlebte sie nach Drais' Tod - entweder in Frankreich oder in Franken, darüber streiten sich die Gelehrten. Nach gängiger Lesart waren es die Franzosen Michaux (1861) und Lallement (1866), die die Draisine mit einer Tretkurbel ausstatteten. Vielleicht war es der Schweinfurter Philipp Moritz Fischer (geb. 1812), der die eine mit der andern Technik verband. Ein Beleg für ein Fischer-Rad datiert allerdings erst aus dem Jahr 1869. Der Kurbel-Antrieb selbst ist noch viel älter. Die erste Maschine mit Kurbelantrieb wird dem Nürnberger Uhrmacher Stephan Farfler (1633 - 1689) zugeschrieben. Der gehbehinderte Mechaniker entwarf einen Wagen, den er mit einer Handkurbel antrieb.

Zurück ins 19. Jahrhundert: Als das Rad mit Pedalantrieb die Straßen eroberte, ging es den Tüftlern schnell um mehr Komfort und höhere Geschwindigkeit. Der Gipfel der Entwicklung wurde in England zum Hype: Die direkt per Pedal angetriebenen Vorderräder wurden immer größer, die hinteren kleiner. Das Hochrad eroberte die Welt.
Aber auch diese Mode war nur von kurzer Dauer. Um den "Knochenschüttler" zu ersteigen und zu fahren, musste man sehr sportlich sein. Eine Federung war nicht vorhanden, und der Direktantrieb und die fehlende Bremse machten das Hochrad nicht nur beim Bergab-Fahren zum Feuerstuhl. Es gab schwere Unfälle (Mark Twain hat das literarisch verewigt: "Wie man das Hochrad zähmt"). Bei Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870 wurden die Hochrad-Akrobaten zum Militärdienst eingezogen und in den Fabriken statt Rädern Kanonen produziert. Das Hochrad verschwand.

Nach dem Krieg gaben zwei Innovationen aus England dem Fahrrad den Schub für seinen Durchbruch: Der Kettenantrieb wurde erfunden, und luftgefüllte Reifen brachten Fahrkomfort. Anfangs als unsportlich verschrien, lief das Nieder- oder Sicherheitsrad mit zwei gleich großen Rädern dem Hochrad schnell den Rang ab. Denn das Industriezeitalter machte die Menschen mobil. Pferd und Kutsche waren den Reichen vorbehalten, das Auto war noch nicht erfunden.


Mit dem Radl zum Fließband

Die Arbeiter waren mit der Eisenbahn unterwegs in die Fabriken oder mit dem Fahrrad. Das preiswerte, robuste und in großer Zahl produzierte Gefährt wurde zum Massenverkehrsmittel.
Am nachhaltigen Erfolg des Velozipeds (französisch für "Schnellfuß") hatten fränkische Tüftler einen entscheidenden Anteil. Von Philipp Moritz Fischer war schon die Rede. Unbestritten ist aber der Anteil seines Sohnes Friedrich an der mobilen Revolution. Der konstruierte in Schweinfurt 1883 eine Kugelschleifmaschine. Damit konnten die bislang aufwendig hergestellten Stahlkugeln massenhaft und mit großer Präzision produziert werden - Kugellager wurden zum Standard in allen Geräten, in denen sich etwas dreht. Dieses Detail machte das Fahrradfahren noch komfortabler, zumal an der Wende vom 19. und 20. Jahrhundert nahezu zeitgleich in Amerika, England und Deutschland eine weitere Verbesserung entwickelt wurde: die Nabenschaltung.
Den Schlusspunkt bei der Entwicklung - zumindest bis zum Aufkommen der E-Bikes, deren Prototypen bei Hercules in Nürnberg vom Band liefen - setzte ein weiterer Franke, Ernst Sachs, ebenfalls in Schweinfurt. Er löste 1907 ein Problem: Der Direktantrieb über die Nabe ließ keinen Leerlauf zu; bergab musste der Radfahrer entweder die Füße von den Pedalen nehmen oder mittreten.

Sachs stellte 1906 die erste alltagstaugliche Freilaufnabe her; erfunden hat er sie nicht, er kombinierte und verbesserte bestehende Systeme zum wohl größten Verkaufsschlager in der Geschichte des Fahrrads, der für rund 50 Jahre Stand der Technik blieb: die Torpedo-Freilaufnabe.
Fischer ("Kugelfischer") und Sachs legten die Grundsteine für den Aufstieg Schweinfurts zur bedeutenden Industriemetropole. Und indirekt hat das Radl hier doch so manchen richtig reich und berühmt gemacht, vor allem einen, den man nie auf einem Fahrrad gesehen hat, sondern mehr im Cabrio oder auf der Jacht: "Playboy" Gunter Sachs, den Sohn von Ernst Sachs.