Eine Sprache beweisen: Lebenswerk gegen Rassimus
Autor: Selmar Schülein
Bamberg, Donnerstag, 14. Mai 2020
Als erste Deutsche untersuchte Annegret Bollée eine Sprache im Indischen Ozean, die von Generationen als Sklavenslang diskriminiert worden war. Das Lebenswerk der Wissenschaftlerin hat das Seychellen-Kreol in Schulen und ins Parlament befördert.
115 Inseln im Indischen Ozean bilden die Seychellen, den kleinsten unabhängigen Staat Afrikas. Nördlich von Madagaskar, südlich vom Nirgendwo. Die Wassertemperatur liegt ganzjährig um die 26 Grad. Hierhin flog Anfang der 70er Jahre eine junge Wissenschaftlerin, um eine Sprache zu erforschen, für die es vor ihr weder eine Grammatik noch ein Wörterbuch gab: Annegret Bollée.
"Die Seychellen sind so klein, da sprach sich ratzfatz rum, dass eine verrückte Deutsche herumläuft, die sich für das Kreol interessiert", erinnert sich die Bamberger Professorin im Ruhestand heute.
Sprachen aus Not
Die Einheimischen pflegten ihre Sprache lediglich im Privaten. Nicht in der Schule, nicht in der Politik. Genau genommen gilt das Seychellen-Kreol Anfang der 70er Jahre, als die Pionierin aus Franken ihre Forschungsarbeit in dem 50.000-Seelen-Staat aufnimmt, noch nicht einmal als Sprache. Amtssprache sind Englisch und Französisch. Dagegen wird das Seychellen-Kreol von weiten Bevölkerungsteilen als Sklavenslang herabgewürdigt und unterdrückt.
1770 nahmen Franzosen die Insel in Besitz. Überwiegend arme Siedler aus umliegenden französischen Kolonien, die Landwirtschaft betrieben und für die Knochenarbeit Sklaven vom Festland verschleppten. Das Land wurde zum Spielball der Kolonialmächte. Insgesamt sieben Mal wechselte die Herrschaft über die Seychellen zwischen der französischen und britischen Flagge. Es gibt Anekdoten über einen französischen Gouverneur, der Uniformen beider Mächte bereithielt, je nachdem, welche Schiffe die Insel gerade anliefen.
Die Menschen unterschiedlichster Herkunft, die in den Jahrhunderten der Kolonialzeit zur Sklavenarbeit auf den Feldern verurteilt waren, besaßen keine gemeinsame Sprache. Unterschiedlichste afrikanische Muttersprachen kamen auf den Plantagen der Seychellen zusammen und hatten als einzig verbindende Verständigungsbasis die Sprache der Kolonialherren. Auf diese Weise entstanden über den Globus verteilt zahlreiche Kreolsprachen aus der Not den Verschleppten heraus: in Westafrika, der Karibik, Indien, Südamerika und Südostasien. "Das Seychellen-Kreol verhält sich zum Französischen wie Italienisch zum Latein", veranschaulicht Bollée das Verwandtschaftsverhältnis der Sprachen.
Aufwachsen ohne Muttersprache
Als Bollée erstmals auf die Seychellen flog, existierte die eigene Muttersprache an dortigen Schulen nicht. Lesen und Schreiben lernte man in den Sprachen der einstigen Kolonialherren. Die offizielle Begründung lautete damals, Kreol sei gar keine richtige Sprache. Es sei ein Mischmasch ohne Regeln, das sich unter den Sklaven aus aller Welt entwickelt hätte, um sich auf den Feldern rudimentär verständigen zu können. Der inoffizielle Grund ist in einem grässlichen Gewirr aus Rassismus, Vorurteilen und ungleichen Machtverhältnissen innerhalb der Bevölkerungsgruppen zu finden. Man stelle sich vor, Kinder lernen hierzulande lediglich Englisch und Chinesisch, das Deutsche bekommen sie in der Schule aber nie zu hören.
Nun besitzt eine Sprache, die bislang nur gesprochen wird, natürlich keine Bücher, keine Zeitschriften, kein einziges gedrucktes Dokument. Dennoch gelang es der Bamberger Sprachwissenschaftlerin, das Regelsystem zu ergründen. Bollée bewies nicht nur, dass es sich beim Seychellen-Kreol um eine vollwertige Sprache mit eigener Grammatik handelt. Sie schrieb auch gleich das Lehrwerk dieser Grammatik, das wortwörtlich Schule machte und noch heute im Unterricht zum Einsatz kommt. In solchen Erfolgen schimmert hinter der Wissenschaftlerin eine zweite Persönlichkeit hindurch: die Vermittlerin.