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Ein Stich, kein Stich? Eine Entscheidung mit Folgen


Autor: Stephan Großmann

Bamberg, Freitag, 05. April 2019

Ina Kudlich kämpfte ein Jahr lang mit den Folgen einer Masernerkrankung, Dirk Bayer leidet heute noch unter den Spätfolgen einer Zecken-Impfung. Zwei Schicksale, die zeigen: Die Debatte ums Impfen ist und bleibt eine Glaubensfrage.
Sollen Eltern ihre Kinder impfen lassen? Diese Debatte wird häufig ideologisch geführt.Matthias Hoch


Anfangs fühlt es sich an wie eine schlimme Erkältung. Dann liegt Ina Kudlich plötzlich flach, eine Woche lang kann sich die damals 30-Jährige kaum bewegen, ihre Augen brennen beim kleinsten Lichtstrahl, Kopf und Glieder schmerzen. Die typischen roten Flecken kommen erst viel später, Kudlichs Hausarzt aber erkennt sofort: Es sind die Masern. Hinzu gesellen sich eine Lungenentzündung und eine Woche lang 41 Grad Fieber. Ums Krankenhaus kommt die heute 47-Jährige herum. Weil die Mutter, selbst Krankenschwester, sich um sie kümmert, und weil die Krankheit ohne nennenswerte Komplikationen verläuft. Es reicht auch so. Vor ihr liegt eine einjährige Odyssee aus Arztbesuchen, Arbeitsausfällen schwerfälliger Genesungszeit. Eine Erfahrung, die sie sich gerne erspart hätte.

Geimpft gegen Masern war sie nicht. Aus Versehen, wie sich später herausstellt. Kudlich wurde 1971 geboren, eigentlich war ihr gleichaltriges Umfeld durchgeimpft. Wie konnte das passieren? "Meine Eltern haben sich jedenfalls nicht bewusst dagegen entschieden. Ich muss wohl durchgerutscht sein. Es bleibt uns bis heute ein Rätsel", sagt sie. " Aber ich hätte mir gewünscht, den Pieks damals bekommen zu haben."

Zum Skeptiker geworden

Anders Dirk Bayer. Er bekam die Masern-Impfung als Kind, wie üblich im Geburtsjahrgang 1973. Später, die 1980er-Jahr neigen sich allmählich dem Ende zu, lässt er sich gegen FSME impfen. Es treten Komplikationen auf, bis heute leidet der Bamberger an teilweise sehr starken Migräneanfällen. "Anfangs habe ich die Kopfschmerzen gar nicht mit der Impfung in einen Zusammenhang gebracht", sagt er. "Ich war viele Jahre sogar überzeugter Impfbefürworter. Als ich dann Vater wurde, beschäftigte ich mich intensiver mit dem Thema. Dabei kamen bei mir immer mehr Fragen auf." Seine Beschwerden gelten mittlerweile als anerkannte Impf-Komplikation, von offizieller Stelle bestätigt. Das ist Dirk Bayer wichtig. Müsste er sich jetzt für oder gegen eine Masern-Impfung entscheiden, würde er klar nein sagen.

Nun trennt sich diese Geschichte also in zwei Lager; in die der Impfbefürworter und der Gegner? Nein, so einfach ist es nicht. Beide, Ina Kudlich und Dirk Bayer, betonen im Laufe der Gespräche die Bedeutung des Individuums, dass jeder selbst seine eigene Entscheidung treffen solle. Und doch wird sich ihre Wege in dem Punkt wohl nicht überschneiden.

Das Thema Impfen ist wie kaum ein anderes emotional aufgeladen, selten bleiben Gespräche, sei es im Internet oder am Stammtisch, auf der sachlichen Ebene der Argumente. Der gesellschaftliche Trend zeigt eine Rückbesinnung zum Natürlichen, Bio-Gemüse und Waldpädagogik verdrängen Alu-Deos und Plastikbecher. Viele Menschen fordern mehr Selbstbestimmung, "bevormundende" Regeln geraten zunehmend ins Abseits. Impfen scheint kaum noch in dieses Credo zu passen. Und doch befürworten laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Auftrag der "Bild am Sonntag" 77 Prozent der Befragten eine Pflicht zur Impfung, nur jeder Fünfte ist dagegen.

Neuerkrankungen nehmen zu

Aktuell flammt die Diskussion wieder groß auf, befeuert von der Debatte um eine Impfpflicht gegen Masern an Kitas und Schulen in Deutschland. Prominente Fürsprecher: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Bundesfamilienministerin Franziska Giffey. "Die Gesundheit und der Schutz der gesamten Bevölkerung setzen der individuellen Freiheit Grenzen", erklärte die SPD-Politikerin.

Tatsächlich steigen Zahlen beispielsweise der Masern-Neuerkrankungen weltweit an. Unicef spricht von einem "alarmierenden Hoch". Auch in Bayern. Wurden dem Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) zwischen 2015 und 2018 insgesamt 35 Fälle gemeldet, waren es heuer schon 27. Elf davon alleine in Unterfranken. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind 2018 in der Europäischen Region 72 Menschen an Masern gestorben.

Das sei vermeidbar, klagen Mediziner. "Impfungen gehören zu den wirksamsten präventiven Maßnahmen", sagt Dr. Gerald Quitterer, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK). Besonders bei den Masern: Die Erkrankung gilt als hochansteckend, noch ansteckender als Ebola, Tuberkulose oder Grippe. Das Virus verbreitet sich durch die Luft und infiziert das Atemsystem. Ansteckend sind Betroffene schon einige Tage vor dem Ausbruch. "Da der Mensch der einzige Wirt des Virus ist und ein geeigneter Impfstoff zur Verfügung steht, ist eine Elimination möglich", schreibt das Robert-Koch-Institut.

Impflücken sind zu groß

Wie gefährlich ist das Impfen? Tatsächlich kann es immer zu Nebenwirkungen kommen, selten treten schwerwiegende Schädigungen bis hin zum Tode auf. Nach dem Infektionsschutzgesetz können Impfgeschädigte staatliche Leistungen beantragen. Erstattung von Behandlungskosten, Grundrente oder Berufsschadenausgleich etwa, je nach Fall. Im Freistaat zuständig ist das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS). Aktuell sind 440 Menschen leistungsberechtigt, pro Jahr kommen kaum mehr als eine Handvoll hinzu. Seit 2014 sind 18 Prozent der Anträge bewilligt worden. Oft würden die erst Jahre später gestellt, so ein ZBFS-Sprecher. "Daran scheitert es meistens, denn dann lässt sich ein Zusammenhang nur noch sehr schwer beweisen."

92,2 Prozent der Kinder in Bayern sind zweifach geimpft, wie Schuleingangsuntersuchungen zeigen. Vor allem bei Erwachsenen klaffen aber große Impflücken. Laut der Bundeszentrale für politische Aufklärung (BZgA) gibt es dafür viele Gründe: fehlendes Wissen über die Krankheiten, Vergesslichkeit und Bequemlichkeit spielten demnach ebenso eine Rolle wie Angst vor Nebenwirkungen und Spritzen oder der Einfluss von Freunden und impfkritischen Medienberichten. Gerald Quitterer von der BLÄK spricht sich dennoch gegen eine die Spritzen-Pflicht aus: "Ich baue auf Information und Aufklärung."

Kommentar: "Im Zweifel für den Impfschutz" (lesen Sie hier)

Welche Infos sind nun vertrauenswürdig? "Es gibt viel Polemik auf beiden Seiten und wir wissen einfach zu wenig", sagt der Bamberger Impfskeptiker Dirk Bayer. Für ihn ist es ein "Glaubenskrieg", in dem Kritiker in die esoterische Ecke geschoben würden. Bayer betont, das Impfen nicht per se verteufeln zu wollen. Er fordert eine umgekehrte Beweispflicht: "Die Pharmaindustrie soll mir erst einmal beweisen, dass ihre Produkte funktionieren. Ist ein kausaler Zusammenhang einwandfrei bewiesen, spricht nichts mehr dagegen."

Wie Bayer ist auch Ina Kudlich auf öffentlich zugängliche Informationen angewiesen. Die sind reichlich vorhanden, entscheidend ist die Lesart. "Ich habe größten Respekt vor dem Individuum. Jeder sollte die Entscheidung selbst treffen. Die Masern-Impfung geht aber übers Persönliche hinaus", sagt sie. "Wir tragen Verantwortung für unsere Mitmenschen." Gegner würden vom Impfschutz anderer profitieren, deren Risiko aber erhöhen. Das macht sie wütend. "Mich hat bisher noch kein Argument der Impfgegner überzeugt."

Was Sie übers Impfen wissen sollten

Stiko Auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse gibt die Ständige Impfkommission Stiko am Robert Koch-Institut (RKI) Empfehlungen zu Standard-, Indikations-, Auffrisch- und Nachholimpfungen für alle Altersgruppen heraus. Infos gibt's im Netz unter www.rki.de. Impfkalender Empfehlungen der Stiko beinhalten unter anderem den Impfkalender für Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie die Tabelle der Indikations- und Auffrischimpfungen: www.stiko.de Erinnerung Einen Online-Vorsorgeplan für ihre Kinder können sich Eltern auf den Internetseiten www.kinderaerzte-im-netz.de oder www.gesundes-kind.de/erinnerungsservice erstellen. In ein Formular trägt man Namen und Geburtsdatum des Kindes ein und wird anschließend per Mail über anstehende Impfungen sowie Vorsorgeuntersuchungen informiert. Nebenwirkungen Impfungen haben Risiken und Nebenwirkungen: Rötungen oder Schwellungen an der Einstichstelle, Abgeschlagenheit, Kopf- und Gliederschmerzen können auftreten, gehen aber nach Aussagen von Experten im Normalfall schnell vorüber.

Die Gründe von Impfskeptikern reichen von der Furcht vor Impfschäden (hier bestünde ein Anspruch auf Entschädigung nach dem Versorgungsrecht) bis zur Auffassung, das Durchlaufen einer Krankheit biete einen besseren Schutz. Antworten zu den häufigsten Einwänden gegen das Impfen geben das Robert-Koch- sowie das Paul-Ehrlich-Institut unter www.rki.de. Präventionsgesetz Durch das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz - PrävG) vom 17. Juli 2015 wurden mehrere neue Vorschriften in das Infektionsschutzgesetz eingefügt. Ziel ist die Stärkung der Impfprävention.

Impfberatungspflicht Bei der Aufnahme eines Kindes in die Kita muss ein Nachweis über eine ärztliche Impfberatung vorgelegt werden. Beim Auftreten zum Beispiel von Masern in einer Gemeinschaftseinrichtung (z.B. Kita, Schule, Hort) können zuständige Behörden ungeimpfte Kinder vorübergehend ausschließen.

Einstellungskriterium Medizinische Einrichtungen dürfen die Einstellung von Beschäftigten vom Bestehen eines erforderlichen Impf- und Immunschutzes abhängig machen. Internet Infos zum Thema bieten auch der Berufsverband der Kinderärzte unter www.kinderaerzte-im-netz.de, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter www.impfen-info.deund das bayerische Gesundheitsministerium unter www.schutzimpfung-jetzt.de.