Ein Paar aus dem Landkreis Bamberg entsorgte das eigene tote Kind im Müll
Autor: Stefan Fößel
LKR Bamberg, Montag, 28. Sept. 2020
Im vierten Teil unserer Verbrechensserie geht es um den Tod des kleinen Tobias, der 1993/94 viele Menschen bewegte. Wochenlang wurde nach dem Jungen gesucht. Bis sich herausstellte, dass seine Eltern die Leiche verschwinden ließen.
Das öffentliche Interesse am "Tobias-Prozess" ist beispiellos: An jedem Verhandlungstag im Mai 1994 stehen die Menschen bereits um 5 Uhr vor dem Landgericht, um diesen Eltern einmal in die Augen blicken zu können: Die damals 22-jährige Sandra V. und ihr 25-jähriger Mann Peter (Namen geändert) hatten den Tod ihres eigenen Sohnes verschuldet, seine Leiche im Müll entsorgt und dann der Öffentlichkeit wochenlang eine Entführungsgeschichte vorgespielt. Um 7 Uhr sind meist alle 47 Platzkarten vergeben, daneben dürfen nur 22 Pressevertreter in den Gerichtssaal, für den Fränkischen Tag berichtet neben Gertrud Glössner-Möschk auch Jutta Behr-Groh. "Das hat damals bundesweit Schlagzeilen gemacht und war neben dem Chefarzt-Prozess wohl das spektakulärste Verfahren, dass ich in Bamberg erlebt habe", sagt die langjährige Gerichtsreporterin.
Wer die Angeklagten zum ersten Mal vor Gericht sieht, hätte ihnen eine solche Tat wohl kaum zugetraut - und auch nicht, dass sie drei Wochen lang alle zum Narren halten können. "Die ganze Bevölkerung hat mitgefiebert, dass sie ihr verschwundenes Kind wiederbekommen - und alle waren fassungslos, als die Wahrheit rauskam", erinnert sich Behr-Groh. "Die beiden waren glaubhaft verzweifelt, aber aus anderen Gründen als alle dachten. Sie waren verzweifelt über das, was sie da angerichtet hatten."
Tödlicher Milzriss
Der Auslöser der Gewalttat ist zu banal, um ihn als Erklärung gelten zu lassen: Am 3. August 1993 tritt Sandra V. ihrem Sohn in den Bauch, weil er Kaba auf dem frisch gewischten Küchenboden verschüttet hat. Der Eineinhalbjährige erbricht nach den nächsten beiden Mahlzeiten, lässt sich später wimmernd ins Bett tragen. Der Vater schlägt noch vor, den Notarzt zu rufen. Doch die Mutter hat Angst, dass ihr das Jugendamt dann alle drei Kinder wegnimmt, auch den zweieinhalbjährigen Bruder und die sechs Monate alte Schwester des kleinen Tobias. Der Tritt der Mutter hat zu einem Milzriss geführt, der dem Kleinkind am Ende das Leben kostet. Laut einem Sachverständigen-Gutachten hätte der Eineinhalbjährige wohl noch Minuten vor seinem Tod gerettet werden können. Doch die Mutter holt keine Hilfe. Ihr Sohn sagt zwei letzte Male "Mama", bevor er stirbt.
Stundenlang soll Sandra V. ihr totes Kind dann durch die Wohnung getragen haben. Ihren Mann, der auf Nachtschicht ist, hat sie da schon telefonisch informiert. Als Peter V. gegen sechs Uhr von der Arbeit kommt, entscheiden sie gemeinsam, Tobias verschwinden zu lassen. Dass sie das Kind dafür zerstückelt haben, räumen die beiden nickend vor Gericht ein. Wer dabei das Messer führte, ist bis heute ungeklärt. "Wir schämen uns beide dafür", sagt der Vater dazu nur am ersten Verhandlungstag. In Säcken stecken die Eltern die Überreste ihres Kindes dann in verschiedene Mülltonnen, vor ihrem Haus im südlichen Landkreis und in Bug am Campingplatz.
Am Folgetag geht die Mutter mit den beiden verbliebenen Kindern in die Bamberger Fußgängerzone und fängt laut an zu schreien: "Mein schönes Kind ist weg." Sie macht sich sogar noch mit Passanten auf die Suche.
Wochenlang sucht auch die Kriminalpolizei mit einer 27-köpfigen "Sonderkommission Tobias" nach den Entführern, dreht in Tausenden Stunden Ermittlungsarbeit jeden Stein um. Übers Fernsehen fleht der Vater, seinen Sohn wieder herzugeben. Die verzweifelte Frau hält er dabei im Arm. Doch die Beamten kommen nicht voran. Hunderte Hinweise, aber keiner führt zu einem Täter. Als aber die Ermittler ihr Augenmerk verstärkt auf die Eltern lenken, gesteht zunächst der Vater, dann auch die Mutter. Drei Wochen hat das Versteckspiel bis zur Verhaftung gedauert. Die Leiche des Kindes ist zu diesem Zeitpunkt längst in der Müllverbrennungsanlage verschwunden.
Vor Gericht setzt sich dann wie ein Mosaik das Bild einer Familie zusammen, die auf den ersten Blick so zu sein scheint wie viele andere auch. "Sie waren ein völlig unscheinbares Paar, ich erinnere mich noch an seine Vokuhila-Frisur", sagt Jutta Behr-Groh zurückblickend. Peter V. arbeitet Schicht in einem Industriebetrieb und zusätzlich noch auf dem Bau - damit sich die Familie etwas leisten kann und der Schuldenberg von 50 000 D-Mark schneller schrumpft.
Sandra V. will es eigentlich besser machen als ihr gewalttätiger und alkoholkranker Vater, der sie seit frühester Kindheit misshandelt hat. Weil es ihr selbst an Zuwendung fehlte, baut sie sich in ihrer Traumwelt eine Bilderbuch-Familie auf, kümmert sich um Haushalt und Kinder. Blitzblank sei das Haus gewesen, alle stets sauber gekleidet.
Schläge und Tritte
Doch kopiert die 22-Jährige auch den Erziehungsstil des eigenen Vaters, vor dem sie sich immer gefürchtet hat. Sie führt ein strenges Regiment, schlägt schon die Kleinkinder mit dem Kochlöffel oder tritt sie einfach um. Auch ihre Kinder müssen gerade sitzen, immer aufessen und sie dürfen keinen Schmutz machen. Zeugen werden sich am vierten Verhandlungstag daran erinnern, dass die Eltern ihre Kinder im Auto schlafen ließen, während sie beide in der Disco feiern gingen. Dass sie Tobias mit dem Schlafsack am Bettchen festbanden und den halben Tag alleinließen, weil er morgens nicht essen wollte. Dass sie Tobias' Kopf gegen das Gitterbett oder auf den Fliesenboden schlugen und ihn ins eigene Erbrochene tauchten. Das sei sie jedoch alles nichts angegangen, sagen die "Freunde" in der Verhandlung. Sandra V. habe sich jede Einmischung verbeten.
"Wir haben unsere Kinder geliebt", sagt Peter V. vor Gericht. Seine Frau und er hätten gewollt, dass es den Dreien gut geht. Und er beharrt darauf, dass er nie geglaubt habe, Tobias sei in Lebensgefahr. "Welche Abgründe müssen sich in so einem Menschen auftun?", fragt hingegen Staatsanwalt Bernd Lieb in seinem zweistündigen Plädoyer. Wer in der Lage sei, sein eigenes totes Kind zu zerstückeln und in Müllsäcken zu entsorgen, "der ist auch fähig, ein Kind sterben zu lassen". Er fordert zwölf Jahre für Sandra und acht Jahre für Peter V. Für Verteidiger Thomas Mönius sei seine Mandantin "in schrecklichem Maße unfähig, sich in die Situation des kleinen Tobias zu versetzen", dessen Tod "die Folge abgrundtiefer Dummheit". Entsprechend plädiert er nur auf zwei Jahre Haft wegen Körperverletzung, ausgesetzt zur Bewährung.
Dieser Argumentation folgt die Strafkammer aber nicht: Am 19. Mai 1994 verurteilt das Landgericht Bamberg die Mutter wegen Misshandlung eines Schutzbefohlenen, Mord und Vortäuschung einer Straftat zu neun Jahren Gefängnis, der Vater muss sieben Jahre hinter Gitter. Aufgrund der Vorgeschichte der Mutter hatte die Staatsanwaltschaft nicht lebenslänglich gefordert. Beim Vater wirkt sich sein Geständnis strafmildernd aus.
Sandra V. erklärt in ihrem Schlusswort, dass sie die Tat bereue und gerne ungeschehen machen würde: "Die Erinnerungen an Tobias, der mein Liebling war, werden mich immer wieder einholen."