Ein Künstler aus Afrika und sein Hungertuch
Autor: Marion Krüger-Hundrup
Bamberg, Samstag, 11. März 2017
Das Misereor-Hungertuch 2017 hängt in diesen Wochen in vielen Kirchen und ist Gegenstand von Predigten, Betrachtungen und Meditationen.
V ielleicht war der kleine Chidi auch darunter. Damals Ende der 60er Jahre, als die Bilder von Kindern mit furchtbaren Hungerbäuchen in die Wohnzimmer der deutschen Wohlstandsgesellschaft gesendet wurden. Biafra. Der Name wurde zum Synonym für Elend, Krieg.
"Ich erinnere mich an diesen Überlebenskampf. Auf der Flucht vor Bomben mussten wir über eine kleine Brücke laufen. Ich konnte vor Schwäche keinen Schritt machen", sagt Chidi Kwubiri im Gespräch mit dem "Fränkischen Sonntag".
Er wurde 1966 in Umuahia/Nigeria geboren und weiß noch heute ganz genau, wie er schon als Bub mit dem Finger Bilder in den Sand gemalt hat. Als junger Mann porträtierte er nigerianische Politiker und Bankdirektoren, um seine Familie zu unterstützen.
Bis ihn etwas aufrüttelte: Chidi, du musst mehr aus dir machen. Mach dich auf den Weg! Sein Weg führte ihn nach Europa, nach Deutschland. Er studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie Fine Arts, wurde Meisterschüler und international bekannter Künstler. Chidi Kwubiri lebt mit seiner deutschen Ehefrau und seinen beiden Söhnen (14 und 18 Jahre) in Pulheim bei Köln.
Sein Traum bleibt, dass er nicht als afrikanischer Künstler, sondern als Künstler aus Afrika wahrgenommen wird, dessen Bilder und Skulpturen Teil einer globalen Kunst sind und nach internationalen Kriterien interpretiert werden. Dieser Anspruch gilt auch für das Hungertuch 2017, in Auftrag gegeben vom Bischöflichen Hilfswerk Misereor.
Seit 1976 entstehen alle zwei Jahre diese auf Stoff aufgedruckten Bilder mit wechselnden Motiven. In der Fastenzeit - oder österlichen Bußzeit - hängt das Misereor-Fastentuch in vielen Kirchen. Es ist Gegenstand von Predigten und Meditationen. Es lädt dazu ein, in einen Dialog zu treten über Gott und die Herausforderungen der Welt.
"Ich bin, weil Du bist" titelt das Hungertuch 2017 nach einem afrikanischen Sprichwort. Es drückt die Überzeugung aus, dass es zum Menschsein gehört, Teil eines Netzes von Beziehungen zu sein. Chidi Kwubiri: "Wir wenden uns dem Anderen zu und sagen unserem Gegenüber: 'Ich bin, weil Du bist'." Oder auch: "Ich bin, weil wir sind, und da wir sind, bin ich." Und zwar nicht kategorisiert als Mann und Frau, Weißer und Schwarzer, Gesunder und Kranker, Junger und Alter, Armer und Reicher, Opfer und Retter, sondern zuerst als Mensch: "Alle Menschen sind vor Gott und vor den anderen Menschen gleich."
Das Hungertuch zeigt zwei Menschen, die sich gegenüberstehen, sich anschauen und einander die Arme auf die Schultern legen. Sie berühren sich respektvoll über eine Grenze hinweg. Denn das Tuch besteht eigentlich aus zwei Bildern, die bewusst so angeordnet sind, dass ein schmaler weißer Zwischenraum erkennbar bleibt. Und der dazu auffordert, ohne Berührungsängste Spaltungen zu überwinden und über Gräben zu springen. Die Grenze wird Brücke: Die beiden Menschen halten einander.
Chidi Kwubiri, gläubiger Christ, hat die Bilder auf Leinwand in der Dripping-Technik gestaltet: Grün und Gelb wurden in vielen Nuancen aufgetropft und die Umrisse mit perfekten Pinselstrichen herausgearbeitet. Das Grün, Symbol für wachsendes Leben, gilt ebenso wie das Gelb in vielen Kulturen als Farbe der Schöpfung und der Fruchtbarkeit. Gelb verweist durch seine Nähe zu Gold auf Gott und kombiniert das Naturhafte mit dem Göttlichen: "Alles Leben trägt die Spuren Gottes in sich!"
Der Künstler, der sich unvermindert von den Kulturen Afrikas inspirieren lässt, hatte im Entstehungsprozess des Hungertuches Nigerias Ströme Niger und Benue vor Augen: "Sie fließen zusammen und existieren von dort an friedlich und gestärkt weiter, obwohl sie aus verschiedenen Quellen stammen", sagt Kwubiri. Wenn diese Naturkräfte zusammenkommen, sich gegenseitig stärken können, erfülle sich das Wort "Ich bin, weil Du bist."
Dass sich das Hilfswerk Misereor für sein Werk entschieden hat, ehrt Kwubiri. Er sieht darin eine Chance, "mitzuhelfen, in der Fastenaktion 2017 Sponsoren zu finden für die humanitäre Arbeit". Tatsächlich eröffnet Kwubiris Hungertuch die Bereiche, in denen Misereor in vielen armen Ländern Hoffnung und Perspektiven schenkt.
Wer zwischen den Farbtupfern zu lesen vermag, findet Botschaften von überfüllten Flüchtlingsbooten, findet dichtgemachte Grenzen, hochgezogenen Stacheldraht, Sprachfetzen aus hitzigen Debatten über Zuzug und Kontingente. "Liebe den Fremden, denn er ist wie du", zeigt sich Chidi Kwubiri bibelfest.
Genau darum geht es ihm: Grenzen, zwischenmenschliche Grenzen, müssen fallen. "Begegnung auf Augenhöhe mit anderen Religionen und Nicht-Religiösen", ergänzt er, "miteinander die Zukunft unseres Planeten gestalten". Denn: "Ich bin, weil Du bist."
INFO:
Was hat es mit Hunger- oder Fastentüchern überhaupt auf sich?
Fastenaktion 2017 "Die Welt ist voller guter Ideen. Lass sie wachsen." So lautet das Leitwort der Misereor-Fastenaktion 2017. Das Bischöfliche Hilfswerk stellt darin das afrikanische Land Burkina Faso in den Mittelpunkt. In vielen Pfarrgemeinden gibt es dazu entsprechende Informationstage. Am 5. Fastensonntag, dem 2. April, ist die Kollekte in den Gottesdiensten ausschließlich für die Entwicklungsarbeit von Misereor bestimmt.
Hungertuch Das Hungertuch - oder auch Fastentuch genannt - diente im Mittelalter zur Passionszeit dazu, den Altarraum zu verhüllen. Ursprünglich einfarbig schwarz oder violett, erzählen erhaltene Beispiele seit dem 14. Jahrhundert in einem rasterförmigen Bildaufbau die Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Weltgericht. Es gibt Hungertücher mit bis zu 99 Bildfeldern. Seit dem 17. Jahrhundert rückt auf den kleiner werdenden Tüchern, jetzt direkt vor dem Altarretabel, Jesu Leiden in den Vordergrund. Im Barock gibt es meist drei Hungertücher mit Geißelung, Kreuzigung und Dornenkrönung. Die letzte Blüte des Hungertuches liegt im 19. Jahrhundert. Hauptverbreitungsgebiet der auf Leinwand gemalten Hungertücher ist der Alpenraum. Aus Westfalen ("Telgter Hungertuch") sind gestickte Fastentücher bekannt.
Brauchtum neu belebt Der Hungertuch-Gedanke wird seit 1976 durch Misereor aufgegriffen, wodurch vergessenes Brauchtum vielerorts wieder belebt wurde.
(Quelle: Lexikon für Theologie und Kirche)