Die Lebenslügen von Onkel Fred
Autor: Marion Krüger-Hundrup
Bamberg, Freitag, 22. Sept. 2017
Alfred Schemmel war seit 1946 in Bamberg ein äußerst beliebter Pfarrer und Religionslehrer. Jetzt muss das Bild neu gezeichnet werden.
Noch heute geraten Zeitzeugen ins Schwärmen, die den evangelischen Pfarrer und Religionslehrer Alfred Schemmel gut gekannt haben: "Er war sehr beliebt und ein richtiger Seelsorger, die Leute gingen zu ihm mit ihren Nöten und Problemen, und er war stets bereit zu helfen", sagt etwa Siegfried Göller, ein gebürtiger Siebenbürger Sachse wie Alfred Schemmel. Der sei ihm "ein väterlicher Freund" gewesen, bekennt der 77-Jährige- und schweigt betreten.
Ja, Siegfried Göller heißt nicht so. Nachdem er von der Journalistin erfahren hat, dass dieser "väterliche Freund" eigentlich gar nicht so väterlich war in seinem Leben, will er "nichts damit zu tun haben" und keineswegs als "Nestbeschmutzer" gelten. Weitere Schemmel-Freunde reagieren ähnlich: "Um Himmels Willen, bloß nicht meinen Namen erwähnen in diesem Zusammenhang!"
Der erste Hinweis darauf, dass mit Alfred Schemmel etwas nicht stimmen könne, lieferte ein 1987 in Bamberg geborener Mann, dessen Vater einst im Haus von "Onkel Fred" ein und aus gegangen war. Und tatsächlich: Gründliche Recherchen ergaben, dass Schemmel, der seit 1946 in Bamberg lebte, im Zweiten Weltkrieg als Mitglied der Waffen-SS mit der Nummer 430416 und als SS-Hauptsturmführer im KZ Auschwitz-Birkenau im Einsatz war. Diese Tatsache ist unter anderem belegt in der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg und der entsprechenden "Zentralen Stelle" in Polen.
Leitender Oberstaatsanwalt Jens Rommel (Zentrale Stelle in Ludwigsburg) hat auf Anfrage in den Akten ausfindig gemacht, dass die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main gegen Alfred Schemmel ein Verfahren "wegen des Verdachts der Beteiligung an Tötungsverbrechen im Bereich des Konzentrationslagers Auschwitz" eröffnet hatte. Da der Aufenthalt Schemmels nicht bekannt gewesen sei, so Rommel, habe das Verfahren 1963 eingestellt werden müssen. Erst 1988 sei der Name Alfred Schemmel in der "Zentralen Stelle" wieder neu aufgetaucht. Es habe sich dann herausgestellt, dass Schemmel 1987 in Bamberg verstorben sei.
Übrigens: Der namentlich bekannte Arzt, der Alfred Schemmel sterbenskrank im Klinikum am Bruderwald begleitete, hatte an dessen Körper eine eindeutige SS-Tätowierung ausgemacht.
"Diese Causa muss schonungslos aufgearbeitet werden, was meine uneingeschränkte Unterstützung findet", erklärt Stefan Kuhn, Vorsitzender des Evangelischen Vereins Bamberg. Dieser Verein ist von der Enthüllung besonders betroffen. Denn Schemmel war 34 Jahre lang, von 1948 bis 1982, sein angesehener Vorsitzender und bis zum Tod Ehrenvorsitzender.
Bis ins Mark getroffen ist auch Pfarrerin Anette Simojoki von der Erlösergemeinde. Schließlich hat Alfred Schemmel seit dem 1. Juni 1946 bis zum 1.Mai 1978 Jahre hinein Amtsaushilfen in der Pfarrei geleistet: Gottesdienste mit Predigt, Taufen, Trauungen, Konfirmationen, Beerdigungen. Die älteren Gemeindeangehörigen "schwärmen noch heute von Pfarrer Schemmel", weiß Pfarrerin Simojoki, die ihn wie Stefan Kuhn persönlich nicht mehr erlebt hatte.
Wie war es möglich, dass Alfred Schemmel mit seinem Vorleben überhaupt eine Anstellung in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche gefunden hat? Die Antwort liegt auf der Hand und ist in seiner Personalakte im Landeskirchlichen Archiv in Nürnberg dokumentiert: Schemmel hat seinen handschriftlich verfassten Lebenslauf gefälscht, um 1951 endgültig in den
Dienst der Landeskirche aufgenommen zu werden. Von seiner realen Funktion in der NS-Zeit schrieb er kein Wort, sondern wies lediglich in knappen Sätzen auf einen soldatischen Einsatz mit verschiedenen Einheiten an der West- und Ostfront hin. Zuvor sei er Religionslehrer und Rektor an der Schule in Czernowitz und nach der Pfarramtsprüfung sowie Ordination am 21. Januar 1940 Inhaber der dortigen zweiten Pfarrstelle gewesen. Nach Einfall der sowjetrussischen Truppen in die Bukowina sei er dann 1940 ins Deutsche Reich - Schlesien - umgesiedelt und 1941 zur Wehrmacht eingezogen worden - bis zur Kapitulation 1945.
Diese Täuschung nicht nur seines Dienstherren ist eine von mehreren. Weitere bestehen darin, dass die Evangelische Kirche Augsburger Bekenntnisses in Rumänien in ihren archivierten Pfarrerbiografien über Alfred Schemmel keinen Eintrag als Pfarrer hat, sondern lediglich als Rektor der Schule in Czernowitz im Jahr 1940: "Alfred Schemmel hatte seminaristische Ausbildung, die ihn als Volksschullehrer qualifizierte, ihm aber auch die Möglichkeit bot, unter gewissen Umständen ein Pfarramt zu übernehmen", lautet die Antwort aus Rumänien auf Anfrage. Archivmitarbeiterin Gerhild Rudolf drückt darin die Vermutung aus, dass Schemmel "ab 1940 ein Pfarramt im Generalgouvernement Wartegau übernommen haben könnte".
Laut rumänischer Aktenlage war Schemmel 1940 noch ledig. Er selbst hat in seinem selbst verfassten Lebenslauf die Heirat mit Hertha ins Jahr 1933 verlegt.
Ungereimt ist auch das Faktum, dass Schemmel in den Akten der Stadt Bamberg, die ihn nach Beurlaubung vom unmittelbaren Dienst in der Landeskirche als Religionslehrer an der damaligen Berufs- und Handelsschule (jetzt Graf-Stauffenberg Real- und Wirtschaftsschule) eingestellt hatte, mit einem anderen Geburtsdatum führte: nämlich 2. März 1900. Dieses falsche Datum stand auch auf der Familienkarte des Einwohneramtes und wurde nachträglich
zwei Mal korrigiert, wie im Bamberger Stadtarchiv belegt ist. Schemmel selbst hat an seinem 80. Geburtstag einem weiteren Zeitzeugen gegenüber lachend erklärt, dass er ja eigentlich fünf Jahre älter sei.
Zu guter oder schlechter Letzt noch eine Lebenslüge von Onkel Fred: Seine Ehe mit Hertha blieb kinderlos. Doch Alfred Schemmel war Vater eines unehelichen Sohnes, von dessen Existenz die Ehefrau erst nach dem Tod des Ehemannes erfuhr. Die heimliche Geliebte Schemmels war als ledige Mutter häufig zu Gast in der Wohnung der Schemmels am Michaelsberg, später in Gaustadt. Hertha Schemmel starb 2010.
Standpunkt
Geschichte nur aufgewärmt?von Marion Krüger-Hundrup
Warum wurde diese alte Geschichte aufgewärmt? mag sich so mancher verständnislos fragen, der die Lebenslügen von Onkel Fred gelesen hat. Diese Geschichte muss erzählt werden in Zeiten, in denen eine sich alternativ nennende Partei Nazi-Jargon wieder hoffähig macht. Und diese Geschichte muss erzählt werden, weil selbst 72 Jahre nach Kriegsende eine Mauer des Schweigens um die Gräueltaten nicht einbricht. Zu viele in Gesellschaft, Politik, Justiz haben die lückenlose Aufarbeitung des braunen Tausendjährigen Reiches behindert, ja verhindert. Diesen Vorwurf muss sich auch die Evangelisch-lutherische Landeskirche gefallen lassen, die unter ihrem damaligen Bischof Hans Meiser nicht genau hinschauen wollte, wen sie da alles in ihre Dienste lässt. Alfred Schemmel ist nur einer von vielen mit unsäglicher Vergangenheit. Aber exemplarisch für Menschen jener Zeit, über deren durchaus denkbare "Umkehr" nur eine höhere Macht urteilen kann.