Das Bier ging aus, das Licht nie an
Autor: Petra Mayer
Bamberg, Donnerstag, 18. Oktober 2012
Ins Archiv wanderte nach 123 Jahren die Vereinsfahne des Männer-Turn-Vereins Bamberg. Ihre Vergangenheit aber lebte kurz vor dem Einmotten noch einmal auf. So folgte ein peinlicher Eklat der Weihe des einst so prächtigen Banners vor 123 Jahren.
Verblasst ist das Rot, auf dem der goldene Schriftzug "Männer-Turn-Verein Bamberg" prangt. Brüchig der Stoff, durch den sich feine Risse ziehen. Ja, die Zeit ging an der alten Fahne nicht spurlos vorüber, die das Ende der Monarchie, der Weimarer Demokratie und endlich auch der Diktatur erlebte, die Deutschland in Schutt und Asche legte. Zwei Weltkriege überstand das einst so prachtvolle Banner, das nach 123 Jahren im sprichwörtlichen Sinn die Flagge streicht. So feierten 130 geladene Gäste zum 130-jährigen Bestehen des MTV eine exakte Nachbildung, während das Original ins Archiv wanderte. Dabei weiß das alte Banner faszinierende Geschichten zu erzählen: Von einer revolutionären Flagge, die man vor der Polizei in einem Kamin verbarg, und einer Einweihungsfeier, die in einem peinlichen Eklat mündete.
Die Wände voller Bilder, die die Kaiserzeit aufleben lassen. Mappen mit Zeitungsartikeln, die vier Generationen zurückreichen. Dank Peter Röckelein sind im Vereinsheim die Anfänge des MTV omnipräsent. Bis zurück zu jenem Herbsttag, an dem 15 "Stehkragenturner" 1882 den Männerturnverein gründeten. Denn so titulierten Spötter die Pioniere der gehobenen Bamberger Gesellschaft. Sieben Jahre sollten indes vergehen, bis die erste eigene Fahne die prosperierende Gemeinschaft bei allen Turnfesten begleitete.
"Siegesgesang der Deutschen..."
Hunderte drängten sich am 23. Juni 1889 auf dem "Feuerwehr exerzierplatz", um die Weihe bewusster Flagge mitzuerleben. Wo heute die Jungen und Mädchen der Martinschule ihre Pausen verbringen, erklang die Hymne "Siegesgesang der Deutschen nach der Hermannsschlacht" - vorgetragen vom Liederkranz unter Begleitung der "vollständigen Infanteriecapelle", wie das Bamberger Tagblatt berichtete. Indes folgte der "erhebenden Feier" mit "wackeren" Leistungen der Riegen- und Kür-Turner Stunden später ein Konzert aus Pleiten, Pech und Pannen.
Ohne Licht: Schunkeln im Dunkeln
Unter "klingendem Spiel" hatte sich der Festzug abends in den Hain bewegt, "lebhaft begrüßt von der Volksmenge", so der Tagblatt-Berichterstatter. "Programmgemäß" begann das Konzert, "das selbstverständlich das geräumige Restaurant mehr als füllte". Warum das Publikum einige Stunden später dem Wirt den Marsch blies, erfuhren viele Bamberger erst via Leserbrief: Empört prangerte der Schreiber die "Bewirtung der Hainrestauration" an: "1/4 Portionen und 3/4 Liter Bier" seien für "ganze Portionen und theuereres Geld verabreicht worden" als mit dem Vorstand zuvor vereinbart. "Unerhört" auch die "Berechnungen für Salz, Brod, Käse und Schinken".
Mit der schlimmsten Verfehlung, die sich ein Wirt leisten kann, schloss der Leserbrief. Demnach war das Bier knapp eine Stunde nach Eintreffen des Festzugs restlos "verschenkt". Und allein dem telefonischen SOS des Vorsitzenden (bei der nächsten Brauerei) verdankten es die Festgäste, dass sie nicht auf dem Trockenen sitzen blieben. Dafür galt es, im Dunkeln zu schunkeln. Unbeleuchtet blieb der Platz, "da ausdrücklich Lampions verlangt waren, welche aber schildbürgerlich vom Wirt ohne Lichter ausgestattet wurden", wie die "Stimme aus dem Publikum" der Zeitung noch gemeldet hatte.
Eine offizielle Erklärung des "Männer-Turn-Vereins" folgte. Sie bestätigte, dass der Preis jeder einzelnen Speise mit dem Wirt "festgestellt" worden sei. Dazu der "ausdrückliche Hinweis", dass man Turner (!) verköstige und somit "richtige Portionen" liefern müsse. Was wenig Wirkung zeigte. Selbstverständlich verwahrte sich der Vorstand auch dagegen, "Herrn Wagner die Konzession gemacht" zu haben, für ein paar Krümel Salz Gästen ganze 5 Pfennige abzuverlangen.
Lampions ohne Lichter geordert?
Die Reaktion des Angeklagten: Nicht schuldig! Portionen seien weder zu klein noch Preise überteuert gewesen. Auch rechtfertigte Wagner die "geringfügige Berechnung für abgegebenes Salz" mit dem Rettich essenden (und würzenden) Publikum, das sich die Speisen der Gaststätte sparte. Unwahr sei ebenso, dass man die Lampions "mit Lichtern" orderte: "Dieselben wurden nur zur Dekoration und nicht zur Beleuchtung bestellt."
Im toten Kamin eingemauert
Soweit zur Fahnenweihe, die bei Bamberger Lesern noch lange nachklang. Und die Geschichte des eingemauerten Banners? Die erinnert daran, wie sich die Bewegung um "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn bei der bürgerlichen Revolution von 1848 engagierte. So war die erste Fahne, um die sich die "Altväter" aller Bamberger Turner versammelten, das Banner der Volkswehr. Mit militärischer Gewalt schlug man den Versuch, einen demokratisch verfassten, einheitlichen deutschen Nationalstaat zu schaffen, ein Jahr später nieder. Und verfolgte die Revolutionäre so verbissen, dass die Polizei selbst nach Flaggen der Bewegung fahndete. In Bamberg aber war alles Suchen vergeblich, nachdem man bewusste Fahne in einen toten Kamin der "Schlimbachschen Seifensiederei" einmauerte. Bis sie im Zuge der Entspannung von Ruß befreit auferstand und bald darauf an der Spitze des Festzugs des 16. Bayerischen Landesturnfestes stand: In den Händen von Vertretern des 1860er Turnvereins.