Angst vor dem Ernst des Lebens?
Autor: Günter Flegel
Bamberg, Mittwoch, 12. März 2014
Zehn Prozent der Schulanfänger in Bayern starten mit einem Jahr "Verspätung", deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt. Die Zahlen einer Studie aus Bamberg haben eine Diskussion über das Bildungssystem angestoßen.
Das Kultusministerium sieht seine Bildungspolitik bestätigt, der Lehrerverband spricht von einem Armutszeugnis: Eine Studie zur Zahl der Schulanfänger in Bayern ist ein Lehrbeispiel dafür, wie unterschiedlich man die gleichen Zahlen interpretieren kann.
"Pisa" war der Anfang: Seit der internationale Vergleich der Schülerleistungen mit den für Deutschland teils wenig schmeichelhaften Ergebnissen die Bildungslandschaft aufschreckte, vergeht kaum ein Jahr ohne eine neue Erhebung: Wie kann man Kinder besser fördern? Beginnt der Ernst des Lebens zu früh? Mit der letzten Frage haben sich Wissenschaftler der Universität Bamberg intensiv beschäftigt.
Die Ergebnisse der Biks-Studie (Abkürzung für "Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter") sorgen jetzt für Aufsehen: Wie Franziska Wehner von der Universität Bamberg erläutert, ist die Zahl der Kinder, die für ein Jahr von der Einschulung zurückgestellt werden, in Bayern in den letzten Jahren "auffallend gestiegen": 2004 blieben lediglich 3,6 Prozent der Kinder im schulpflichtigen Alter ein Jahr länger im Kindergarten, 2012 lag ihr Anteil bei 10,7 Prozent. Damit ist die Zahl der "Spätzünder" in Bayern größer als im Bundesdurchschnitt (sieben Prozent laut Bildungsbericht der Bundesregierung).
Die blanken Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, wie auch die Bamberger Wissenschaftlerin einräumt: Zum einen sinkt die Zahl der Schulanfänger in Bayern seit Jahren kontinuierlich, so dass der Anteil der zurückgestellten Kinder relativ größer wird. Zum zweiten, so Wehner, hat Bayern den Stichtag für die Einschulung vor sechs Jahren vom 30. Juni auf den 30. September verlegt. Die Abc-Schützen sind also jünger geworden, so dass sich mehr Eltern entscheiden, ihrem Kind noch ein Jahr "Pause" zu gönnen.
Interpretationen
Den Schluss, dass Kinder in Bayern in ihrer Entwicklung hinter denen anderer Bundesländer zurückbleiben, lässt diese Studie also nicht zu. Wehner, die für die Studie auch die Eltern intensiv befragt hat, vermutet die Ursache eher dort als bei den Kindern: "Da hält sich vielfach hartnäckig die Meinung, dass mit dem Beginn der Schulzeit die Kindheit vorbei ist und der Ernst des Lebens beginnt", sagt die Wissenschaftlerin.
Wie sehr die Zahlen interpretationsfähig (und -bedürftig) sind, zeigt der Blick auf die Situation im Schulamtsbereich Bamberg. Laut Schulamtsdirektorin Barbara Pflaum geht die Zahl der zurückgestellten Schüler in der Stadt Bamberg deutlich zurück: von 12,14 Prozent im Schuljahr 2011/12 auf nur noch 7,7 Prozent 2013/14. Im Landkreis ist die Entwicklung gegenläufig: 2008 gab es 7,97 Prozent Zurückstellungen, 2013 waren es 9,73 Prozent. "Dabei fällt auf, dass es in manchen Orten kaum Zurückstellungen gibt, in anderen Orten dagegen sehr viele", sagt Pflaum.
Gegensätzlich sind auch die politischen Interpretationen: Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) wertet die Zahlen als Beleg für den Erfolg der bayerischen Bildungspolitik, spricht von "Flexibilität und Individualität". Der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, Klaus Wenzel, sieht dagegen eine Reaktion auf den wachsenden Druck schon auf die kleinsten Schüler. "Immer mehr Eltern wollen diese Turbobildung nicht", sagt er.
Einig sind sich alle, Wissenschaftler, Politiker und Pädagogen: Die Kinder brauchen mehr Zeit, der "Ernst des Lebens" muss ihnen noch Spaß machen.