Alternative zum Heim: eine Senioren-WG
Autor: Anette Schreiber
Hirschaid, Dienstag, 04. Dezember 2012
In Hirschaid gibt seit dem Frühjahr Oberfrankens erste Wohngemeinschaft für Demenzkranke. Angehörige berichten von den positiven Veränderungen. Jeder packt mit an - wenn er kann.
Industriestraße 17. Gleich bei Mc Donald's. Ob das eine gute Wohnadresse ist, mit dem vielen Verkehr, den nicht nur Neubert, sondern auch weiteres Gewerbe ins Gebiet schwemmt? "Demenzkranke erleben die Dinge anders", sagt Jörg Jahn. "Abwechslung ist gut." Abwechslung gibt's hier in der Tat: Mitten ins Hirschaider Gewerbegebiet hat der 47-Jährige Oberfrankens erste Wohngemeinschaft für Senioren mit Demenz gesetzt. Dorthin, wo früher ein Fitness-Studio war, mit Tanzzentrum und Aktiengesellschaft als Nachbarn.
Breite Gänge, Aufzug, Einkaufsmöglichkeiten. Das und die Nähe zu Bereichen, in denen Leben pulsiert, war Jörg Jahn wichtig. Denn er möchte alles richtig, und damit auch anders machen. Anders als in konventionellen Heimen. "Satt, sauber, trocken", lacht der Altenpfleger bitter auf, das sei meist oberste Devise. Der Alltag der Bewohner besteht aus Warten von einer Mahlzeit zur nächsten.
Anderer Ansatz
Jahns Ansatz ist ein anderer. Er findet, man muss den einzelnen Menschen sehen, seine Biografie kennen, ihn entsprechend den Alltag erleben lassen. Das ist sein Gegenansatz. "Herr F. nimmt nach dem Essen noch eine Tasse Kaffee mit, im Gehen." Das soll und darf er weiterhin. Denn Herr F. war Vertreter, erklärt Jahn diese Angewohnheit. Frau We. wiederum war Geschäftsfrau, sie hat den ganzen Laden geschmissen. "Schauen Sie", macht Jahn aufmerksam: Frau We. beobachtet Frau Wo. ganz genau. Die schneidet gerade Kartoffeln in Stücke. Frau We. geht zu ihr, nimmt ihr das Messer aus der Hand, reicht ein anderes mit den Worten, "das war stumpf". Jörg Jahn lächelt milde, für ihn ist das in Ordnung.
Herr E. wandert nach dem Frühstück zur Couch. Dort steht ein Schachbrett auf dem Beistelltisch. Unser Fotograf setzt sich dazu, eine schnelle Partie. Nur weil Herr E. einen "blöden Fehler" gemacht hat, wie Fotograf Michael Gründel es nennt, setzte er den 84-Jährigen matt.
"Der war deutscher Meister", lässt Martin Brehm respektvoll wissen. Brehms Schwiegermutter Karla ist seit einigen Monaten in der Wohngemeinschaft. "Hier ist sie wieder aufgeblüht", merkt Brehms Ehefrau Hannelore an. "Jetzt geht es auch uns wieder besser", atmet sie auf. So geht es auch Gert Jochmann. Auch seine Mutter, die ebenfalls Karla heißt, gehört zur WG. Die Kinder der Bewohner bilden das Gremium, das es laut dem Teilhabegesetz in so einer "Einrichtung" geben muss. Das Gremium bespricht unter anderem Anschaffungen und vertritt insgesamt die Interessen der Angehörigen.
Seit dem 1. März gibt es diese besondere Wohngemeinschaft in Hirschaid. Jahn ist der Hauptmieter, der an die Bewohner untervermietet und dann als Service den Ambulanten Dienst, also die medizinische Versorgung anbietet. Als Altenpfleger hat er die kassenärztliche Zulassung. So können Pflegeleistungen entsprechend der Pflegestufen verrechnet werden. Den Rest, das ist dann wie im Heim, müssen die Angehörigen aufbringen, aus der Rente oder sonstigem Vermögen ihrer Angehörigen. Hier in der WG sind das für Gert Jochmann und Familie Brehm jeweils 1600 Euro. Im Heim war es teilweise um etliche Hundert Euro teurer. Aber das war für beide Familien nicht der entscheidende Faktor.
Idee kam von den Angehörigen
Bevor Jahn die Hirschaider Senioren-WG eröffnete, leitete er in Bamberg eine Tagespflege-Einrichtung, wo er das Konzept für sein aktuelles Vorhaben entwickelte. "Die Angehörigen brachten mich auf die Idee", erinnert sich Jahn. Viele waren wie er selbst mit der Gesamtsituation bei der Seniorenbetreuung und Pflege unzufrieden. Über andere Angehörige erfuhren Brehms und Jochmanns von Jahns Hirschaider Demenz-WG.
Der fordert für seine "Mieter", so nennt er die an Demenz erkrankten Senioren, die hier wohnen, sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft wahrzunehmen. Schließlich würden für sie doch Beträge gezahlt wie bei einer Hotelunterbringung. "Dort würden die Pagen springen."
Jahn versteht sich als Dienstleister und damit wird für ihn die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse zur Selbstverständlichkeit. Vertrautheit gehört dazu. Deswegen besteht die Einrichtung aus Möbeln wie sie "diese Generation kennt".
Damit sich die Mieter zu Hause fühlen, bilden ihre (zwischen 17 und 21 Quadratmeter großen Zimmer) in der insgesamt 460 Quadratmeter großen Wohnung einen Teil des vorherigen Lebens ab. Die Einrichtung, Gegenstände die für viele Jahrzehnte Leben stehen: Zeitungsausschnitte, Medaillen, Hochzeits- und Familienfotos. Die Türen stehen meist offen. Das Leben spielt sich größtenteils zwischen Küche und Wohnzimmern ab. Damit der Übergang vom Zimmer zur Wohnung nicht zu abrupt ist, werden schwere, wuchtige Teile kombiniert mit zarten Vitrinen und teils verspielten Dekors. "Die Möbel dieser Generation." Für Jahn ein Element der Kategorie Bedürfnisse.
Zu den besonderen Bedürfnissen gehört aber auch eine spätere Frühstückszeit, so gegen 9.30 Uhr; und ein längerer Fernseh abend. "Ich kenne sie alle", sagt Jahn zu den bei "dieser Gene ration" beliebten Fernsehsen dungen. Florian Silbereisen, Carmen Nebel- Jahn nennt die Favoriten seiner Mieter. Denn als Teil des Teams übernimmt er auch die Abenddienste mit. Insgesamt vier Mitarbeiter, alle vom Fach, und eine Reinigungskraft sorgen für das Wohlbefinden der WG.
Das Konzept scheint zu funktionieren. Frau We., die bis zum Umzug 24 Stunden am Laufen war, sie sitzt und beobachtet konzentriert - ohne Psychophar maka. Wie das? Weil die Bewohner einen Alltag haben, in den sie sich einbringen, etwas tun können, jeder nach seinen Möglichkeiten; bei der Essens-Zubereitung, bei der Hausarbeit, beim Einkaufen, beim Bügeln, bei der musikalischen Unterhaltung und so weiter. Herr E. läuft nicht mehr weg.
Ebenso wenig wie Karla Jochmann. Sie hatte sich lange selbst versorgt, kam dann mehrmals ins Krankenhaus, weil sie zu wenig trank, danach ins Heim, wo sie immer wieder abhaute. Sie wurde ruhig gestellt, so ruhig, dass es jetzt nicht mehr möglich ist, die Muskulatur der 85-Jährigen wieder so aufzubauen, dass sie ohne Rollstuhl auskommt, bedauert ihr Sohn. Aber ansonsten gehe es ihr wieder gut. Sie genieße es beispielsweise, auf der Veranda ihre Zigarette zu rauchen.
An Mobilität gewonnen
Hannelore Brehms 92-jährige Mutter hat hier sogar wieder an Mobilität gewonnen. "Was wir denn mit ihr gemacht hätten", seien sie jüngst erst in der Stamm-Heckenwirtschaft der betagten Mutter gefragt worden. Brehms und Jochmann fühlen sich in ihrer Entscheidung für die WG bestätigt. Für sich selbst wünschen die Endfünfziger beziehungsweise Anfangssechziger ähnliche Lösungen. Und der Standort in der Industriestraße: Gut angebunden mit Autobahn und Bahnlinie und all der Betriebsamkeit. "Sie sind angekommen", stellt Jahn mit Blick auf seine Gäste zufrieden fest, während diese ihr Mittagessen zubereiten. Linseneintopf. Das mag diese Generation.