Als Faxen länger dauerte als Schreiben
Autor: Sabine Christofzik
Bamberg, Donnerstag, 01. Oktober 2015
Die Deutsche Einheit wurde für Journalisten diesseits und jenseits der fränkisch-thüringischen Grenze zum Abenteuer. Um den Lesern in acht Thüringer Kreisen eine informative und unabhängige Zeitung bieten zu können, musste man sich täglich neu zusammenraufen. Und es hat sich gelohnt.
Anfang Oktober gab's ihn schon für "Westgeld". Das war und blieb die Deutsche Mark für die Leser noch eine Weile länger. 1,10 Ostmark dagegen haben sie am ersten Erscheinungstag, dem 1. März 1990, auf die Ladentheke gelegt: für den Thüringer Tag. Eine Geschichte zum Thema Deutsche Einheit. Da brauchen fünf Journalisten gar nicht lange "auswärts" zu suchen!
Der Thüringer Tag (TT) war eine echte Neugründung nach der Wende (andere Verlage aus den alten Bundesländern waren mit Lokalausgaben dort vertreten). Er erschien zunächst in zwei Ausgaben in den Kreisen Saalfeld, Rudolstadt, Pößneck und Lobenstein sowie Ilmenau, Neuhaus am Rennweg, Sonneberg und Hildburghausen. Einige Monate vor der Einstellung zum 30. September 1992 wurden beide zu einer zusammengefasst.
Druckort war Bamberg, Redakteure und Korrespondenten saßen in Thüringen. Die Koordination wurde bis November 1990 von der Kronacher Lokalredaktion des Fränkischen Tags übernommen. Danach liefen die Fäden in Bamberg zusammen. Soweit die nüchternen Fakten.
Da hatte man sie nun zusammengespannt, die "Ossis" und die "Wessis". Sie hatten ein gemeinsames Ziel: Die Menschen im Verbreitungsgebiet umfassend und wahrhaftig mit Informationen zu versorgen. Was nicht heißt, dass sie auch immer einer Meinung waren.
Herausforderung nach Maß
Als erste in ihren Erinnerung kramt diejenige, die am kürzesten dabei war: ein Jahr und ein Monat Thüringer Tag - eine Herausforderung nach Maß im Anschluss an das FT-Volontariat. "Die wissen alles. Die wissen alles besser!" Stoßseufzer und nach oben verdrehte Augen hüben und drüben. Es war fast, als ob man das "Vogelzeigen" durch die Telefonleitung gesehen hätte. "Herrschaftszeiten, wir brauchen's halt so und nicht anders!" in Franken. "Mensch, wir haben doch auch nicht nur in der Schule Aufsätze geschrieben" in Thüringen.
Wir haben gerauft am Telefon. Aber wir haben uns immer zusammengerauft. Manchmal furchtbar genervt von den Endlos-Diskussionen, aber nie so, dass man unversöhnlich gestritten hätte. Die Auffassung übers Zeitung-Machen ging bei den Redakteuren jenseits und diesseits der ehemaligen Grenze eben gelegentlich auseinander.
Dreimal täglich (manchmal öfter) wurde geflucht auf die Technik und die Transportwege. Diese vermaledeite Faxerei. Quollen endlich die dringend erwarteten Papierschlangen aus dem Gerät, war garantiert ein Teil der Texte und der handschriftlich hineinredigierten Sätze schlecht lesbar.
Die Fotos kamen per Kurier aus Thüringen nach Kronach. Dort wurden sie samt Postmappe in den Zug nach Bamberg gesetzt - und fuhren, wenn es dumm lief (und niemand vom Zugpersonal ans Ausladen dachte) gelegentlich bis München.
Computer in der Redaktionsarbeit waren Zukunftsmusik. Fränkischer und Thüringer Tag wurden am Leuchttisch umbrochen. Musste aus den mit Klebewachs eingekleisterten Text-Fahnen ein Absatz oder ein Satz herausgekürzt werden, weil es anders sonst nicht gepasst hätte, hat der Metteur das Skalpell angesetzt. Es stand die meiste Zeit ein Redakteur mit am Umbruchtisch und hat entschieden - für ein gerade erst "ausgelerntes" Redaktionsküken in der rauen Männertruppe ein gutes Selbstbehauptungstraining.
Ziemlich kurze Ewigkeit
Ein Exemplar der letzten Ausgabe des Thüringer Tag sollte eigentlich am Entstehungsort (sprich im TT-Redaktionszimmer in Bamberg) für die Ewigkeit erhalten bleiben. Einmauern oder Eingraben ging nicht. Also dauerte die Ewigkeit nur einige Jahre. Dann muss die unter den losen Platten der Deckenverkleidung "archivierte" Zeitung bei der Rundum-Renovierung der Büros den Handwerkern vor die Füße gefallen sein.
Von einer anderen Warte aus betrachtet Anton Palfi diese Zeit. Er war, abgesehen von den ersten zwei Monaten, Koordinator für die beiden TT-Ausgaben - zunächst in Kronach, dann in Bamberg. "Dass die Leute in den Redaktionen was machen und ihre Meinung sagen wollten, das hat man richtig gespürt. Es war eine Begeisterung da, die man heute nicht mehr kennt. Und die Bereitschaft zu lernen.
Die Leser in der ehemaligen DDR, für die war damals die Zeitung, die aus dem Westen kam, die Wahrheit. Sie haben für bare Münze genommen, was darin stand. Deshalb musste man den Kollegen in Thüringen hin und wieder eindringlich klar machen, dass das, was sie schreiben, aus verlässlichen Quellen stammen muss - und nicht Dinge vom Hörensagen weitergegeben werden dürfen."
Ein neues Leben begann
"Thomas Fischer, der Herausgeber der in Saalfeld gegründeten Regionalausgabe Thüringer Tag, fragte mich im Sommer 1990, ob ich nicht beim Aufbau der neuen Zeitungsredaktion mitmachen wolle, erinnert sich Peter Cissek. "Da gab es nicht viel zu überlegen: Denn meinen Job als Betriebsfotograf, den ich als Mittzwanziger damals gerade erst zwei Jahre lang ausübte, würde es nach der bevorstehenden Abwicklung oder Privatisierung des 7000 Mitarbeiter zählenden Walz- und Stahlwerkes im benachbarten Unterwellenborn nicht mehr geben. Außerdem ergab sich für mich Parteilosen eine große Chance: Waren die Zeitungen in der DDR Sprachrohre der SED und anderer gleichgelenkter Parteien, Gewerkschaften und ähnlicher Organisationen, so kamen nun unabhängige Zeitungen auf den Markt, die von den Redaktionsmitgliedern keine Parteizugehörigkeit und Linientreue verlangten.
Im September 1990 begann mein neues Leben. Von meinen und meiner künftigen Frau bei der Währungsunion umgetauschten Ersparnissen kauften wir uns im Ruhrgebiet einen gebrauchten VW Golf. Anfangs kam ich im 40 Kilometer entfernten Lobenstein zum Einsatz, später in Pößneck.
Die Schreibmaschine und Kamera brachte jeder Kollege selbst mit in die Redaktion. Die in der Dunkelkammer entwickelten Fotos holte ein Kurierfahrer mindestens zwei Tage vor dem Erscheinungstag ab. Damals war die Konkurrenz groß: Bei wichtigen Anlässen erschienen meist die Reporter von vier Tageszeitungen und zwei Anzeigenblättern. Neben Vertretern der Ostthüringer Zeitung, die aus der regionalen DDR-Tageszeitung Volkswacht hervorging, schickten auch die thüringischen Ableger der Frankenpost Hof und der Neuen Presse Coburg ihre Berichterstatter.
Viele Selbstständige hatten seinerzeit die gleichen Probleme wie wir als neue Zeitung. Telefonanschlüsse waren äußerst selten. Es war für uns als Berichterstatter mitunter einfacher, direkt vor Ort zu fahren als jemanden an den Hörer zu bekommen.
Heute frage ich mich, wie wir es überhaupt geschafft haben, täglich eine Ausgabe herauszubringen. Nicht nur, dass es für Redaktion, Vertrieb, Anzeigen und Geschäftsstelle lediglich eine gemeinsame Telefonleitung gab, die wir auch noch für das Faxen unserer Texte und der damals noch per Hand gefertigten Seitenspiegel benötigten.
Die Faxverbindung kam aus technischen Gründen meist erst nach zig Versuchen zustande. Ich weiß nicht, ob unsere späteren Bamberger Ansprechpartner es uns je geglaubt haben, dass wir für das Faxen der Texte meist mehr Zeit benötigten als für das Schreiben. Es waren auch Zeiten, in denen man Begriffe noch nicht googeln konnte. So strichen unsere Kollegen in Bamberg gelegentlich Ortsnamen wie Lederhose, oder machten aus dem einstigen Fürstentum Reußen das ihnen bekannte Preußen.
Neuigkeiten wurden aufgesaugt
Kaum hatte Alexander Müller sein Volontariat abgeschlossen, sollte sich 1989 sein Wirkungskreis weit über den inzwischen vertrauten Landkreis Kronach hinaus ausweiten. "Nach der Öffnung einer Reihe von Grenzübergängen - bei einigen war ich als Reporter selbst vor Ort - kamen immer wieder DDR-Bürger in unsere Lokalredaktion, die für uns schreiben und aus Thüringen berichten wollten. Wir erhielten Post aus Saalfeld und Rudolstadt, Ilmenau und Sonneberg - und entschlossen uns bald, unseren Lokalteil mit einer Seite unter der Rubrik ,Blick nach Thüringen' auszuweiten.
Aktualität spielte damals keine allzu große Rolle, denn ehe uns Nachrichten, Berichte oder Fotos erreichten, vergingen Tage. Gleichwohl sog die Mehrzahl unserer Leser die Neuigkeiten aus dem unbekannten Deutschland begierig auf. Bald konnten wir zwei und mehr Seiten produzieren und knüpften so auch immer mehr Kontakte in die Nachbarkreise.
Die Monate, die ab März 1990 folgten, um gemeinsam mit Kollegen in Kronach dem Thüringer Tag auf die Beine zu helfen, waren ebenso spannend wie anstrengend. Letztendlich gelang es uns, eine gute Basis zu schaffen für ein Projekt, das immerhin zweieinhalb Jahre Bestand haben sollte. Geblieben sind Erinnerungen, Erfahrungen und Freundschaften, die bis heute Bestand haben.
Zu guter Letzt macht Stephan Breidt eine Gedankenreise in die Vergangenheit. "Mich trifft bei der morgendlichen TT-Lektüre fast der Schlag: Die Kollegen in Bamberg haben meiner Gesprächspartnerin beide Arme amputiert und aus dem zweispaltigen Bild ein kleines einspaltiges gemacht. Klar - an der "Platte" zeigt sich erst, ob die Seite - so wie ich sie mir vorgestellt hatte - aufgeht und jeder noch so kleine Einspalter seinen Platz findet.
Unsere gemeinsame Herausforderung lässt sich an 120 Kilometern festmachen. Diese Strecke liegt zwischen mir als Journalisten vor Ort im thüringischen Saalfeld und den Kollegen der Thüringenredaktion im fränkischen Bamberg. Sobald ich das Büro verlasse, bin ich telefonisch nicht zu erreichen. Meine Eltern, in deren Haus ich zu der Zeit wohne, haben kein Telefon. Das Wort "Handy" könnte ich 1991 zwar buchstabieren, nicht jedoch sinnhaft ausfüllen.
Vor den Toren der "Maxhütte"
Überhaupt ist es eine überraschende Zeit: Ich bin Journalist geworden - vor der "Wende" in der DDR wäre das nie passiert, auch wenn mir mein Onkel als Redakteur am Bodensee immer ein großes Vorbild war. Und ich schreibe und fotografiere nicht nur. Wenn die Post streikt und die "große" Tageszeitungskonkurrenz vor Ort nicht zugestellt werden kann, stellen sich mein Chef und ich uns morgens um fünf Uhr vor die Werkstore der "Maxhütte" und verteilen unseren Thüringer Tag - in klirrender Kälte und mit nicht zu kleiner Genugtuung.Ich kann anfangs gar nicht richtig verstehen, wie wir von den drei Tageszeitungen in Saalfeld das regionale Geschehen mitbestimmen. Wenn es uns zu bunt wird, stimmen wir schon einmal einen Kommentar ab, mit dem wir zeitgleich gegen die im Aufbau befindliche städtische Verwaltung ätzen. Ich beklebe stolz meinen Trabant mit dem TT-Logo und hänge mit der Kiste manchen Kollegen im alten West-Polo ab, wenn wir mit der Feuerwehr durch den Thüringer Wald brettern.
Der Thüringer Tag ist mein Sprungbrett in die Welt des Journalismus, in einer unglaublichen Zeit mit großen Geschichten über den Wandel der Region, kleinen über skurrile Bewerber bei den Kommunalwahlen und dem Gefühl, ein wenig zur Einheit beigetragen zu haben.
Übrigens haben mir die Kollegen aus Bamberg die "amputierten" Arme der Gesprächspartnerin eingerahmt und zu meinem TT-Abschied im Sommer 1992 geschenkt. Zumindest gedanklich ist das Portrait nun wieder eine Einheit.