Wenn Amor in die Neuzeit kommt
Autor: Gerhild Ahnert
Bad Kissingen, Donnerstag, 18. April 2013
Die Aufführung von Glucks Oper "Orpheus und Eurydice" hatte durch ihre besondere Dramaturgie etwas Besonderes.
Der Musikhörer kennt die Ohrwurmarie "Che farò senza Euridice?" oder "Ach, ich habe sie verloren". Der Musikwissenschaftler weiß, dass diese Oper eine Revolution in der Musikgeschichte bedeutete. Aber wer kennt die Oper?
Die Besucher des Theaterringes im Kurtheater hatten jetzt Gelegenheit, Christoph Willibald Glucks revolutionäre Oper "Orpheus und Eurydice" in der Fassung, in der sie 1762 in Wien uraufgeführt wurde, kennen zu lernen.
Gluck tat mit ihr einen großen Schritt weg von der formal festgelegten Barockoper hin zu einer psychologisch motivierten Handlung und einer musikalischen Gestaltung, die dieser untergeordnet ist.
An äußerer Handlung gibt es wenig: Orpheus trauert am Grabe seiner verstorbenen Gattin Eurydike sehr eindrucksvoll. Die Götter lassen sich von seinem Gesang erweichen, schicken Amor zu ihm und erlauben, dass er Eurydike aus der Unterwelt zurückholt. Allerdings darf er sich auf dem Rückweg nicht nach ihr umdrehen, kein Zeichen seiner Liebe geben.
Amor sei gepriesen
Er überwindet mit seinem Gesang die Furien, kommt zu Eurydike, schafft es aber nicht, sie nicht anzusehen: Sie stirbt erneut. Erst als er sich umbringen will, um bei der geliebten Frau zu seine, haben die Götter ein Einsehen und erlauben ihm, ohne Bedingungen Eurydike mit sich zurück ins Leben zu nehmen; das Happy End ist gesichert, Amor wird gepriesen. Der Traum, einen geliebten Menschen wieder vom Tod zurückzuholen, ist in diesem Mythos Bild geworden, er bewegt Trauernde genauso damals im alten Griechenland wie heute.
Modernes Totengedenken
Martin Otava von der Kammeroper Prag wollte ihn herausholen aus seiner antiken Gestalt und verlegte für seine Inszenierung die Handlung in ein modernes Totengedenken eines Ehemanns um die gestorbene Ehefrau (in aufwändigen modernen Kostümen von Aleš Valášek).
Der Mann nimmt Gift, weil er sich das Leben allein nicht vorstellen kann, die Fahrt in die Unterwelt erlebt er als Halluzination, während er langsam dem Gifttod entgegengeht. Er beobachtet noch, wie sein Traum-Alter ego Eurydike (die Tänzerin Šárka Brodaczova), die als zentrale Bühneninstallation im Hintergrund aufgebaute neonbeleuchtete Treppe hinauf ins Leben führt; er selbst stirbt am Ende am Gift. Das wäre ohne die Hilfestellung aus dem Programmheft nicht so ganz klar geworden, wurde auf der Bühne jedoch schlüssig umgesetzt.
Da man die gesamte Uraufführungsfassung spielte, war es für Zuschauer aus dem 21. Jahrhundert ungewohnt, dass die Zwischenmusiken für das in der Oper des 17. Jahrhunderts unerlässliche Ballett die Bühnenhandlung immer wieder unterbrachen. Regisseur Otava integrierte sowohl diese Einlagen als auch die Opernchöre geschickt in seine Handlung, wodurch diese den Fortgang verlangsamten, aber nicht unterbrachen. So entstand ein dichtes Geflecht aus Orchestermusik, Chorsätzen, Rezitativen und Arien, das die Zuschauer durch die Schaffung eines bildmächtigen Schwebezustands sich einlassen ließ auf Orpheus‘ Traum von Umkehrung seines tragischen Verlusts.
Die Protagonisten
Glucks Arien haben nur im Falle von Amor wirklich die Funktion, die Handlung voranzutreiben. Vera Poláchnová, im Traum von der Dienerin zum Liebesgott mutiert, sang ihren Part schnörkellos, etwas rau, aber durchaus passend. Bei den beiden Protagonisten dienen die Arien viel mehr der inneren als der äußeren Handlung, haben so den Charakter von Ruheinseln im Geschehen, in denen wie unter einer Lupe das Innere der Personen ganz nahe durchleuchtet wird, wofür die Zeit angehalten, der Zuhörer ganz auf die Seelenzustände der Personen konzentriert wird, wodurch sie bei guten Sängern eine sehr große Intensität gewinnen.
Umsichtiger Dirigent
Und mit guten Sängern war die Truppe gekommen. Lívia Obručnik-Vénosová sang eine sichere, tonmächtige Eurydike. Die Entdeckung des Abends war die junge, bisher nur in Tschechien bekannte Altistin Vaćlava Krejči-Housková als Orpheus. Wenn man anfangs noch etwas irritiert war von der nicht angekündigten Umbesetzung vom New Yorker Countertenor Robert Crowe zu einer unbekannten Sängerin, vergaß man alle Vorbehalte sofort, wenn man Frau Krejči-Houskovás klangsatte Stimme, ihre in allen Lagen souveräne Tonführung, ihre klare und saubere Interpretation der tückischen Koloraturen und ihr überzeugendes Spiel in ihrer Hosenrolle sah und hörte.
Auch der von Martin Veselý betreute Chor interpretierte bis auf kleine Unschärfen ganz ausgezeichnet und meisterte seine vielfältigen darstellerischen Aufgaben sehr gut. Dirigent Martin Doubravsky leitete sicher und umsichtig sein kleines, aber sehr motiviert aufspielendes Orchester. Das Publikum lauschte fasziniert den Klängen aus einem ganz anderen Jahrhundert, nicht zuletzt, weil diese Begegnung mit der Musikgeschichte so ganz heutig daherkam. Und vielleicht auch, weil in diesem Gastspiel zum ersten Mal und absolut überzeugend im Kurtheater eingesetzt wurde, was in den Opernhäusern der Welt gang und gäbe ist: Übertitel mit der deutschen Übersetzung des italienischen Textes.
Die Kissinger Zuschauer erfreuten die Akteure mit langem Beifall, rhythmischem Klatschen und verhaltenen Bravos, denn von denen hätten die Prager für ihre Leistung mehr verdient gehabt.