Von Burnout bis Coolout: Kämpfen gegen den Pflegenotstand
Autor: Benedikt Borst
Bad Kissingen, Dienstag, 09. November 2021
Eigentlich wollen Pflegekräfte nur ihren Beruf machen und sich um ihre Patienten kümmern. Im Klinikalltag ist das oft nicht so möglich, wie es sein sollte. Lea Friedrich setzt sich als Aktivistin gegen die Missstände ein: Was sich ändern muss.
Lea Friedrich ist 28 Jahre alt. Läuft alles normal, wird sie bis zur Rente noch länger arbeiten, als sie bisher auf der Welt ist. Sie arbeitet in der Pflege und damit in einem Beruf, der sie oft an ihre Belastungsgrenzen und darüber hinaus bringt. Sie sagt einen Satz, der in dem Umfeld nicht unbedingt typisch ist: "Die Vorstellung, dass ich mein Leben lang pflegen kann, ist sehr schön", sagt sie. Der Beruf sei sehr erfüllend, sie brauche das.
Lea Friedrich stammt aus Oberthulba. Nach dem Abitur in Bad Kissingen hat es sie zum Studium nach Berlin verschlagen. Die Karriere am Theater verwarf sie jedoch bald wieder - und machte stattdessen eine Ausbildung in der Pflege. "Ich fand das so wahnsinnig echt." Heute arbeitet sie als Gesundheits- und Krankenpflegerin bei den DRK-Kliniken Berlin Westend. Im Nachhinein findet sie den Wechsel nicht überraschend. "Ich bin da reingewachsen", erzählt sie. Die Großeltern wurden über Jahre zuhause gepflegt.
Die Belastung ist hoch - grenzwertig ist sie zwar nicht jeden Tag, aber oft. Lea Friedrich gehört zum Springerpool, das heißt sie arbeitet dort, wo sie gebraucht wird; das kann auf der Geriatrie sein, genauso wie auf der Inneren oder der Orthopädie. Tagsüber ist sie für 15 Patienten zuständig, nachts sind es 30. Weil die Arbeit so kräftezehrend ist, hat sie sich entschieden, in Teilzeit zu arbeiten, um längere Erholungspausen zu bekommen. "Ich möchte, dass ich dem Anspruch gerecht werden kann, den ich an mich selber habe", sagt sie. Viele Kolleginnen seien von Burnout bedroht, weil sie sich aufreiben, andere stumpfen ab und gehen gleichgültig ihrem Dienst nach - Experten bezeichnen dieses Phänomen als Coolout.
Personaluntergrenzen nur auf dem Papier
Heike Zimmer arbeitet seit den 1980er Jahren in der Krankenpflege. Zunächst in Kliniken in Mittelfranken, später ist sie in den Landkreis Bad Kissingen gezogen. In der Region hat sie in den vergangenen 30 Jahren mehrere Krankenhäuser kennengelernt, aktuell ist sie in einer Klinik in Bad Neustadt angestellt. Weil sie über interne Abläufe redet, möchte sie anonym bleiben; ihr Name wurde von der Redaktion geändert. Das größte Problem sieht sie in der Personalausstattung, also dass es für zu viel Arbeit zu wenig Pflegekräfte auf Station gibt. "Die Leute kommen in Ausnahmesituationen. Du musst ihnen in ihrer Not beistehen. So wie du es eigentlich gelernt hast, kannst du sie aber oft gar nicht versorgen", klagt sie. Pausen fallen regelmäßig aus, manchmal bleibe nicht einmal Zeit, etwas zu essen. Nach den Schichten ist sie platt.
Die gesetzlich geltenden Personaluntergrenzen, also Vorgaben wie viele Pflegemitarbeiter auf einer Station Dienst haben müssen, würden regelmäßig nur auf dem Papier eingehalten. "Weil wir das Personal nicht haben", sagt die erfahrene Krankenpflegerin. So würden zum Beispiel Sekretärinnen, die nicht am Bett stehen auf den Dienstplan geschrieben, nur um die Untergrenzen zu halten.
Zimmer betont, dass viele Kliniken mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Die Grundentwicklung in Richtung Pflegenotstand bemerke sie seit den 1980er Jahren. Schon damals wurde für bessere Bedingungen in der Pflege demonstriert. "In der Corona-Krise war das Arbeiten für uns fast besser", erzählt sie. Die Kliniken verschoben alles, was möglich war und kämpften sich Kapazitäten frei. "So hatte man das Personal von zwei Stationen plötzlich für eine. Jetzt im Regelbetrieb stehen wir wieder auf dem Schlauch", sagt sie. Zimmer kritisiert, dass von der Politik bisher jeglicher Rückhalt und der Wille zu Veränderung fehlt.
Was Pflegende gegen Notstand fordern
Der Deutsche Pflegerat hat jüngst Alarm geschlagen: Eine Stelle in der Pflege bleibe aktuell im Schnitt 240 Tage vakant. Aktuell fehlen deutschlandweit 200 000 Pflegekräfte, in zehn Jahren könnten es eine halbe Million sein.