Über den Verlust von Heimat
Autor: Sigismund von Dobschütz
Bad Kissingen, Mittwoch, 20. März 2019
Seminar und Vortrag an der Bildungsstätte Heiligenhof. Gast war Sandra Brökel, die aus ihrer Romanbiographie "Das hungrige Krokodil" vorlas.
Passend zur Leipziger Buchmesse, die am Donnerstag mit Tschechien als Gastland eröffnet wird, hatte die Bildungsstätte Heiligenhof zum Seminar über "Geteilte Erinnerungen" eingeladen. Sechzig Teilnehmer, jeweils zur Hälfte Sudetendeutsche und Tschechen, darunter auch Angehörige der deutschstämmigen Minderheit, diskutierten über den Verlust von Heimat und unterschiedlich geprägte Erinnerungen - aus Sicht der Vertriebenen und der in Tschechien Verbliebenen. Emotionaler Höhepunkt der viertägigen Tagung war am Montag der Vortrag von Sandra Brökel (46) mit Lesungen aus ihrer Romanbiographie "Das hungrige Krokodil".
"Mein Buch dient der deutsch-tschechischen Verständigung", hob Brökel zur Einführung hervor. Ihr 2018 erschienenes und bereits in dritter Auflage vorliegendes Buch beschreibt das von politischen Systemwechseln geprägte Leben des 1920 in Prag als Sohn eines Tschechen und einer Deutschen geborenen Psychiaters Pavel Vodák (1920-2002).
Hatte Vodák als Jugendlicher noch das harmonische Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in Prag erlebt, änderte sich dies abrupt mit dem Einmarsch der Wehrmacht im März 1939.
Machtmissbrauch
Als "hungriges Krokodil" bezeichnete Vodák in seinen Aufzeichnungen, auf denen Brökels gleichnamiges Buch basiert, den überall und jederzeit drohenden Machtmissbrauch politischer Gewalt, der sich in der deutschen Besetzung, den nachfolgenden Racheakten der Tschechen an Deutschen mit Mord und Vertreibung bis hin zum Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes zur Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968 zeigte.
"Das Krokodil, das noch heute jederzeit zuschnappen kann, hat keine Nationalität. In Vodáks Leben war es erst deutsch, dann tschechisch, zuletzt russisch", machte Brökel in ihrem dreistündigen Vortrag deutlich. Als aktiver Widerständler während des Prager Frühlings sah sich der auch außerhalb Tschechien anerkannte Kinderpsychiater Pavel Vodák schließlich 1970 gezwungen, vor der Verfolgung der Staatssicherheit mit seiner Familie in die Bundesrepublik zu fliehen - zum Entsetzen seiner tschechischen Ehefrau Vera, die Deutschland noch immer als Feindesland sah.
Zwar hätten auch zwei andere Länder die Flüchtlinge aufgenommen, aber nur Deutschland akzeptierte die Universitätsabschlüsse des inzwischen 50-jährigen Psychiaters. Brökel: "Für Vodák war aus dem einstigen Volk der Täter nun das Volk der Retter geworden."
Doch noch Jahre später plagte den im Westen zu Wohlstand gekommenen Arzt das Gefühl des Verrats gegenüber seinen im Osten verbliebenen Landsleuten.