Druckartikel: Tränenreicher Abschied von Reußendorf

Tränenreicher Abschied von Reußendorf


Autor: Helmut Raab

, Donnerstag, 19. Juli 2012

1952 fiel Reußendorf dem Truppenübungsplatz zum Opfer. Für die Kinder von damals bleibt das Schicksal der vertriebenen Familien lebendig. Eine Erinnerung an die verlorene Heimat.
Die Schüler dieser Klasse aus Reußendorf mussten ihre Heimat verlassen. Das Bild entstand kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.


Viele Tränen flossen im Juli 1952 in Reußendorf, als die Bewohner ihr geliebtes Dorf zum zweiten Mal - diesmal endgültig - verlassen mussten. Nachdem es bereits im Jahr 1938 vorläufig geräumt worden war, fiel es nun doch dem Truppenübungsplatz zum Opfer. Für die Bewohner war es bitter, ihre so sehr geliebte Heimat aufzugeben und sich dem harten Los zu fügen. Die Erinnerung daran ist auch 60 Jahre danach noch lebendig.
Schon 1951 verdichteten sich die Gerüchte, dass Reußendorf endgültig der Erweiterung des Truppenübungsplatzes weichen müsse, erinnert sich Alfred Kleinhenz aus Wildflecken. Dabei wurde Reußendorf zunächst zum 1. April 1951 nach Auflösung des Heeresgutsbezirks in die Gemeinde Neuwildflecken eingegliedert. "Den Bewohnern wurde in Aussicht gestellt, Häuser und Felder erwerben zu können", erzählt der gebürtige "Silberhöfer". "Aber dann kam alles ganz anders." Für Kleinhenz' Familie war die Enttäuschung um so bitterer, weil sie schon eine Zwangsumsiedlung mit gemacht hatten: Im Jahr 1938 zog die Fmailie vom nahegelegen Weiler Silberhof nach Reußendorf um - in der Hoffnung, dort auch bleiben zu können. Kleinhenz besuchte in Reußendorf die Schule und verbrachte seine Jugend im Ort. In der Schwerspatgrube "Helene" wurde er zum Bergmann ausgebildet.
Wie alle übrigen Bewohner machten sich auch Kleinhenz' Eltern Gedanken, wo sie dieses Mal ihre Zukunft suchen sollten, erinnert sich Kleinhenz. Von Vertretern des Landratsamtes Bad Brückenau und der Gemeinde Neuwildflecken wurden die Einwohner langsam auf ihre erneute Umsiedlung vorbereitet. Schon bald stellte sich heraus, dass eine Gegenwehr wenig Sinn machte, nachdem die Anwesen und Gründstücke bereits Eigentum des Bundes waren, berichtet Kleinhenz.
Die meisten Einwohner, die einen gesicherten Arbeitsplatz bei den Amerikanern im Truppenlager oder als Arbeiter in der Schwerspatgrube hatten, wollten ihrer angestammten Rhönheimat die Treue halten. Nachdem sein Vater und er zu dieser Zeit in der Schwerspatgrube "Marie" ihr Brot verdienten, entschied die Familie nach Wildflecken umzuziehen. Heute wohnt der 77-Jährige in seinem Eigenheim im Silberhofweg. Andere fanden in den Wirtschaftsräumen Schweinfurt, Offenbach und Frankfurt ein neues Zuhause.
Unvergessen bleibt der Abschied aus Reußendorf im Sommer 1952. Die "Räumung" begann unmittelbar nachdem zum letzten Mal in der schmucken Kirche von Reußendorf ein Abschiedsgottesdienst stattgefunden hatte. Obwohl von den kleinen landwirtschaftlichen Betrieben die Ernte noch nicht eingebracht war, erfolgte von "Amtswegen" die Anordnung zum Umzug. In Wildflecken wurden im Eiltempo Ersatzwohnungen für die Umsiedler durch den Bund gebaut. Da diese Gebäude zum Umzugstermin bei weitem noch nicht fertiggestellt waren, mussten die betroffenen Familien in "Notwohnungen", die sich im Eigentum des Bundes befanden, vorlieb nehmen. Dabei handelte es sich überwiegend um ehemalige Hallen, in denen während des Krieges Munition hergestellt worden war. Auch in der ehemaligen "Heeresbäckerei" wohnten Familien.
"Der Umzug mit offenen Lastwagen wurde ohne Rücksicht auf das Wetter durchgeführt", weiß auch Helmut Raab zu berichten. Er hat als Kind die Zwangsumsiedlung mitgemacht. Die Bilder der Fahrzeuge, auf denen die Möbel und teilweise auch die Hundehütten der treuen Vierbeiner gestapelt waren, sind ihm und vielen der Betroffenen als traurige Erinnerungen an die Stunden des Abschieds im Gedächtnis haften geblieben. Am neuen Wohnort angelangt, erwarteten die Umsiedler übergroße Räume, oft mit einer Höhe von mehreren Metern, zugigen Fenstern und teilweise Betonfußböden. "Wie sollen wir diese Räume im Winter für unsere Kinder heizen?", war nur eine von vielen Fragen.
Einige der Reußendorfer hatte Teile ihres Viehs, Hasen, Hühner und sogar Kühe zu ihrer neuen Unterkunft mitgebracht. Sie mussten allerdings schon bald einsehen, dass die Haltung von Tieren auf Dauer nicht möglich war. Schweren Herzens waren sie gezwungen, sich von ihnen zu trennen. Helmut Raab erinnert sich, wie auch seine Mutter unter Tränen das Vieh verkaufen musste.
Erst im darauffolgenden Jahr konnten die Sozialwohnungen in der Jahnstraße und im Eierhauckweg im damaligen Neuwildflecken bezogen werden, obwohl die Zufahrten und die Außenanlagen bei weitem noch nicht fertiggestellt waren. Die im "Eilverfahren" meist recht kleinen Wohnungen waren vielfach so feucht, dass die vom mehrfachen Umzug schon arg strapazierten Möbel, jetzt endgültig auseinander fielen. Viel schlimmer noch: Die feuchte Wohnatmosphäre verursachte schon bald bei Kindern und alten Menschen Krankheiten.
Nicht einfach war es für die Kinder, sich in der neuen Schule zu integrieren. Waren sie es doch gewohnt, dass alle Klassen von eins bis acht in einem Schulraum unterrichtet wurden. In Wildflecken gab es zwei Klassen, die gemeinsam beschult wurden. Ein weiteres Problem war für die Kinder, von heute auf morgen ihre altvertrauten Freunde zu verlieren. Außerdem verlängerte sich für viele der Schulweg.
Die älteren Reußendorfer erinnern sich, dass Teile aus der Reußendorfer Kirche - die dem Heiligen Jakobus geweiht war - an und im Kirchenzentrum Wildflecken eine sinnvolle Verwendung gefunden haben. Das schmiedeeiserne Kreuz schmückt jetzt den Kirchturm, während die Kirchenglocke der ehemaligen Reußendorfer Kirche die Besucher zum Kirchenzentrums in Wildflecken begleitet. Einen würdigen Platz hat auch der heilige Jakobus an dieser Stelle gefunden. Der Friedhof von Reußendorf ist übrigens erhalten geblieben. An Feiertagen erlaubt die Bundeswehr den Zugang zu den alten Gräbern. Ehemalige Reußendorfer kommen immer wieder an die Ruhestätte ihrer Vorfahren zurück und Gedenken mit einem Gottesdienst dem Schicksal ihrer Familien.
Am Ende bleibt die Hoffnung, dass die innige Beziehung und Erinnerung an dieses unvergessene Fleckchen Erde auch nach sechzig Jahren noch recht lange im Herzen der Reußendorfer bestehen bleiben möge. Das ist ein besonderer Wunsch von Alfred Kleinhenz, der in Wildflecken zwar ein neues Zuhause gefunden hat, der Heimat seiner Kindheit aber immer verbunden bleiben wird.