Siebte Stolpernstein-Verlegung in Bad Kissingen
Autor: Ralf Ruppert
Bad Kissingen, Freitag, 26. Sept. 2014
Künstler Gunter Demnig hat in Bad Kissingen erneut Stolpersteine verlegt. Nachgeahmt wurde die Aktion im Landkreis bisher nur in Maßbach. Nachfahre Ernst O. Krakenberger kehrte für die Verlegung zurück zu den Wurzeln seiner Familie und dankte für das Gedenken an seine Vorfahren.
Mehr als 48 000 Stolpersteine hat Gunter Demnig bereits verlegt. Trotzdem: "Jeder Stein, jedes Schicksal ist neu", erzählte der Kölner Künstler bei seiner jüngsten Aktion in Bad Kissingen. Vor dem Haus Hemmerichstraße 8 erinnern vier kleine quadratische Bronzetafeln im Boden an die Geschwister Emma, Siegfried und Else Kissinger sowie Carola Manasse. Damit gibt es 61 Stolpersteine im Stadtgebiet.
Im Landkreis kommen noch 13 in Maßbach dazu, in allen anderen Gemeinden gab es bislang entweder keine entsprechenden Ini tiativen oder Vorbehalte gegen die Erinnerungsaktion.
In ganz Europa unterwegs
1993 entwickelte Demnig die Idee der Stolpersteine. "987 Kommunen in Deutschland haben sich mittlerweile beteiligt", berichtet der Künstler. Selbst international ist der deutsche Künstler gerne gesehen: Von Frankreich bis Rußland und von Norwegen bis Griechenland reicht das Interesse. "Der 50 000ste Stolperstein wird noch heuer irgendwo in Europa verlegt", hofft Demnig.
Angewiesen ist er immer auf die Zusammenarbeit mit Menschen vor Ort. "Was mir immer wieder Freude macht, ist das Interesse von Schülern", lobte er auch die Mitarbeit der Bad Kissinger Realschüler. Biographien werden immer vor Ort erforscht, aber: "Am Ende geht alles noch einmal über meinen Tisch, ich trage alle Namen in ein Gedenkbuch ein." Danach geht er an die Arbeit: Je nach Textlänge brauche er unterschiedlich lang für die Bronze-Tafeln. "Manchmal hämmert man eine halbe Stunde", hänge vor den Gebäuden dann viel vom Boden ab.
Spender für Poppenlauer gesucht
Initiiert hat die Verlegung von Stolpersteinen in Bad Kissingen der frühere Kurdirektor Sigismund von Dobschütz. Er selbst sei in Nürnberg 2008 über die kleinen Gedenktafeln im Boden gestolpert. "Das ist ein gutes Medium, um gerade den Jungen zu zeigen, wie man auch mit Geschichte umgehen kann."
Das dachte sich auch Klaus Bub, der Leiter des Maßbacher Heimatmuseums: 2012 organisierte er die Verlegung von 13 Stolpersteinen für die 13 deportierten Juden aus Maßbach. "Ich hatte damals auf Anhieb genügend Spenden", erinnert er sich. Und: "Die Reaktionen waren insgesamt sehr positiv, auch wenn es die ein oder andere kritische Stimme gab." "Ich beschäftige mich seit Jahren mit der jüdischen Geschichte", erzählt Klaus Bub. Obwohl ihn die Gemeinde damals so gut unterstützte, habe er bislang "nicht den Mut gehabt", dem neuen Gemeinderat und dem neuen Bürgermeister sein nächstes Projekt vorzustellen: Aus Poppenlauer wurden sogar 24 jüdische Mitbürger deportiert. Auch für dort hofft Bub noch auf Stolpersteine und Spender.
Anders als in Maßbach lehnte der Bad Brückenauer Stadtrat die Verlegung von Stolpersteinen vor einigen Jahren ab. Dabei hatte auch Bad Brückenau eine große jüdische Kultusgemeinde, wie der verstorbene Pfarrer Ulrich Debler dokumentiert hat. "Wir gedenken unserer jüdischen Mitbürger in anderer Form", verweist Bürgermeisterin Brigitte Meyerdierks (CSU) auf zahlreiche Gedenktafeln in der Stadt, unter anderem an der ehemaligen Synagoge und am Jüdischen Friedhof. Zudem komme Josef Schuster, der Präsident des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, regelmäßig in die Heimatstadt seiner Vorfahren.
Neue Tafel am Seelhaus-Platz
In Hammelburg gab es 2010 einen Antrag auf Stolpersteine. "Das wurde damals abgelehnt, auch ich habe mich dagegen ausgesprochen", sagt Bürgermeister Armin Warmuth (CSU). Aus seiner Fraktion gab es nun einen erneuten Vorstoß. "Ich werde keine Initiative ergreifen", stellt Warmuth jedoch klar. Vielmehr setze er auf andere Formen: "Wir haben schon sehr viel gemacht, um die Erinnerung an die jüdischen Mitbürger aufrecht zu erhalten." Zudem werde demnächst der Seelhaus-Platz neu gestaltet und im November eine Tafel angebracht mit den Namen aller Juden, die deportiert wurden. "In Untererthal und Westheim haben wir das ja bereits."
Kein Thema sind Stolpersteine in anderen Gemeinden mit jüdischer Vergangenheit: Weder der Gerodaer Bürgermeister Alexander Schneider, noch sein Amtskollege Wilhelm Friedrich aus Zeitlofs hatten bislang Anfragen. "Wir haben ja unsere Gedenktafel an der Alten Schule", verweist Friedrich darauf, dass die Erinnerung trotzdem wach gehalten werde.
Die Lebensgeschichte von Ernst O. Krakenberger ist eng verknüpft mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte: "Meine Eltern flohen 1939 in die Niederlande, ich wurde dort im Dezember 1940 geboren." Während die Eltern zweieinhalb Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern überlebten, war ihr Sohn bei einer deutsch-niederländischen Familie untergebracht: "Wie die allseits bekannte Anne Frank, nur mit dem Unterschied, dass ich überlebte", berichtete der 73-Jährige bei der mittlerweile siebten Stolperstein-Verlegung in Bad Kissingen.
Ernst Krakenberger ist ein Nachfahre der vier Geschwister Kissinger, denen die jüngsten Stolpersteine gewidmet sind (siehe rechts). "Meine Mutter war eine geborene Kissinger", berichtete er. "Die Stolpersteine sollen aber nicht nur die Erinnerung wach halten, sie sollen auch, gerade in dieser Zeit, in der Antisemitismus wieder salonfähig wird, eine dauerhafte Mahnung für die Zukunft sein", sagte Ernst O. Krakenberger und plädierte für die Verständigung der Religionen und der Völker.
Gerechte unter den Völkern
Die Familie Stockmann, die ihn damals rettete, wurde von Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" ernannt. Zur deutschen Geschichte zitierte Krakenberger seinen Vater: "Ich habe vieles wenig Schönes erlebt, bin aber der Ansicht, dass das Deutsche Volk einer Krankheit erlegen ist, für welche die meisten schon genug direkt oder indirekt bestraft worden sind."
Vor zehn Jahren trafen sich rund 65 Mitglieder aus sieben Ländern der Familie Kissinger in Bad Kissingen. "Die Stadt Bad Kissingen hat unser Treffen nach Kräften unterstützt und alle, die dabei waren, denken mit Vergnügen und Freude an diese Tage", berichtet der 73-Jährige, der heute in Schwaig bei Nürnberg wohnt. "Es war ein erstes Zeichen, dass die Verbindung Kissinger-Bad Kissingen wieder aufgenommen wurde." Deshalb sei es um so erfreulicher, dass zum Andenken an die vier Mitglieder der Kissinger Familie die Stolpersteine vor einem der Häuser, in dem die Familie damals wohnte, gelegt werden.
"Ausgelöschte Menschenleben"
"Es soll jeder, der hier vorbeikommt durch diese Stolpersteine daran erinnert werden, dass alle Menschen gleich sind, dass es keine rassistischen Vorurteile geben darf und dass nur so das Zusammenleben in Bad Kissin gen eine gute Zukunft haben wird", wünschte sich Krakenberger, der im Gespräch mit der Saale-Zeitung auch ankündigte, noch öfter nach Bad Kissingen kommen zu wollen.
"Sie zeigen uns hier in Bad Kissingen Ihren Großmut", dankte Bürgermeister Anton Schick (DBK) Krakenberger für seinen Besuch. Die 61 Stolpersteine im Bad Kissinger Stadtgebiet seien "Sinnbild für 61 barbarisch ausgelöschte Menschenleben". Über die Geschwister Kissinger sagte Schick: "Im Dritten Reich war ihnen ein Leben hier nicht mehr möglich, sie wurden in den Tod getrieben."
Marlies Walter, Barbara Thiele und Sigismund von Dobschütz haben in Archiven die Lebensgeschichte der vier Geschwister Kissinger recherchiert. Initiator von Dobschütz verwies darauf, dass die Stolpersteine für alle Opfer des Nazi-Regimes verlegt werden. Unter den 61 Stolpersteinen sei einer in Garitz auch einem Zeugen Jehova gewidmet.
Nach der Verlegung kam es noch zu einem Gespräch über die Beziehung der Geschwister Kissinger zum US-Politiker Henry Kissinger: Gemeinsame Vorfahren seien Halbbrüder gewesen, berichtete Krakenberger. "Aber Kissinger war nie in Bad Kissingen, das wurde er bereits gefragt", berichtete Sigismund von Dobschütz. Geboren wurde der berühmteste Träger des Namens Kissinger in Fürth, in seiner Kindheit sei er aber auch oft in Leutershausen gewesen. Sigismund von Dobschütz hofft, dass es noch weitere Stolpersteine in Bad Kissingen gibt, Spenden in Höhe von 120 Euro für einen Stein seien jedenfalls willkommen.
Vorfahren Ernst O. Krakenbergers Ur-Ur-Großvater hieß Loeb Kissinger, er hatte unter anderem die beiden Söhne Meyer und Koppel (Karl) Kissinger. Meyer Kissinger (1870 bis 1935) hatte drei Kinder, der Älteste war Isidor Kissinger, der Großvater Krakenbergers. Koppel (Karl) Kissinger hatte die vier Kinder Emma, Siegfried, Else und Carola.
Großeltern "Für meine Mutter Martha war Else Kissinger Tante und Stiefmutter", berichtet Krakenberger über die Beziehung seiner Großeltern: Isidor Kissinger heiratete in zweiter Ehe seine Cousine Else Kissinger. Aus der ersten Ehe stammten acht Kinder, als Nummer drei Tochter Martha, verheiratete Krakenberger. Ernst Krakenberger ist der einzige Sohn.
Familie Die Familie Kissinger war eine eingesessene jüdische Familie Bad Kissingens. Der Kaufmann Karl/ Koppel Kissinger wohnte mit seiner Ehefrau Jeanette, geborene May aus Waldorf bei Meiningen, zunächst in der Kirchgasse und zog 1883 in die heutige Hemmerichstraße 8, lange "Villa Kissinger" genannt, um. 1938 wurde das Gebäude für 36 000 Reichsmark an den Kolonialwarenhändler Georg Pabst rechtmäßig verkauft.
Emma Kissinger wurde am 12. Juni 1875 als ältestes Kind in Bad Kissingen geboren. Ab den 1920er Jahren lebte Emma allein im Elternhaus, nachdem ihre Geschwister inzwischen aus Bad Kissingen weggezogen waren. Sie vermietete Zimmer an Gäste. Später zog sie zu ihrem Bruder Siegfried nach Nürnberg.
Siegfried Kissinger wurde am 21. Dezember 1876 in Bad Kis singen geboren. Während des Ersten Weltkriegs wurde er im August 1915 mit fast 39 Jahren eingezogen. Bis zu seiner Entlassung als Gefreiter im Dezember 1918 diente er in verschiedenen Regimentern in Würzburg, Offenbach und Landau. Laut Militärakte war Siegfried Kissinger etwa 1,60 Meter groß, untersetzt und trug eine Brille. Im März 1923 zog er nach Nürnberg und arbeitet im jüdischen Kaufhaus Tietz. Am 10. September 1942 wurden Emma Kissinger und ihr Bruder Siegfried nach Theresienstadt deportiert. Wenige Tage später, am 29. September, wurden beide mit 2000 anderen Juden in das Vernichtungslager Treblinka gebracht und ermordet. Der genaue Todestag ist nicht bekannt.
Else Kissinger wurde am 17. Juni 1879 in Bad Kissingen geboren. 1918 heiratete sie ihren verwitweten Cousin Isidor Kissinger und zog zu ihm nach Nürnberg. Die Ehe diente vor allem dazu, die acht Kinder Isidors im Alter von 12 bis 19 Jahren zu versorgen, Else und Isidor Kissinger hatten keine gemeinsamen Kinder. Den Familienunterhalt verdiente Isidor Kissinger als Mitinhaber der Firma "Zentner und Kissinger Bürsten- und Lederfabrikation", er starb 1935. Am 27. Februar 1942 wurde Else Kissinger verhaftet und ins Polizeigefängnis Nürnberg gebracht. Am 24. März 1942 wurde sie nach Izbica deportiert. Nach dreitägiger Fahrt kam der Transport dort am 27. März an. Hier verlieren sich Else Kissingers Spuren.
Carola Kissinger wurde am 4. Mai 1883 geboren. Sie heiratete um 1910 Sally Manasse, Justizrat in Berlin. Er starb 1941. Am 25. Januar 1942 ließ die Geheime Staatspolizei Carola Manasse nach Riga deportieren. Wegen der Kälte erfroren viele der mehr als 1000 Deportierten bereits während des mehrtägigen Transports, nur 13 Menschen überlebten. Das Schicksal der damals 58-jährigen Carola Manasse ist unbekannt.