Orchestrale Kraft
Autor: Gerhild Ahnert
Bad Kissingen, Dienstag, 04. Oktober 2016
Der Herforder Münsterkantor Stefan Kagl kehrte mit einem russischen Programm nach Bad Kissingen zurück.
Die Orgel ist das einzige Instrument, bei dem ein einziger Spieler den Tonumfang und in einem gewissen Umfang auch die Tonvielfalt eines Sinfonieorchesters zur Verfügung hat. Das machte sie schon im Vorbarock, aber vor allem seit dem Bau der großen Barockorgeln und dem Boom der Konzertorgeln in den Konzertsälen im 19. Jahrhundert, zu einem Instrument auch für den nichtkirchlichen Bereich. Und es nimmt nicht Wunder, dass gerade große sinfonische Werke des 19.
Jahrhunderts Bearbeiter und Organisten reizen, auch den Part des Sinfonieorchesters ihrem Instrument zu übertragen.
Der Herforder Münsterkantor Stefan Kagl, von 1991 bis 1996 Kantor an der Erlöserkirche in Bad Kissingen, ist ein Organist, der fasziniert ist von den Möglichkeiten, die ihm sein Instrument bietet, weshalb er gern die Schuke-Orgel der Herz-Jesu-Kirche mit ihren 53 Registern auf drei Manualen und Pedal schlägt. Diesmal kam er mit Bearbeitungen zweier berühmter Orchesterwerke der russischen Spätromantik zurück.
An den Anfang dieses zehnten Konzerts des 28. Bad Kissinger Orgelzyklus stellte Kagl jedoch eine Hommage an den berühmtesten Kollegen, Johann Sebastian Bach. Und dessen Fantasie und Fuge g-moll BWV 542 erschien keineswegs als willkürlich gewählter Einstieg, sondern machte deutlich, dass Bach hier nicht nur dem Barock verhaftet ist, sondern durch die Freiheit der formal nicht festgelegten Fantasie mit kühnen Harmonien schon ins 19. Jahrhundert vorverweist. Stefan Kagl spielte sie durchschaubar, ziselierte den Kontrast zwischen den beschwingten Rezitativteilen und den wuchtigen Passagen und die Zusammenführung der Manuale am Ende sehr klar heraus. Die Fuge nahm er rasch, in ihrer Vierstimmigkeit dennoch absolut durchhörbar und musizierte mit Liebe zum Detail einen großen Spannungsbogen bis zum majestätischen Finale.
Fürst Igor tanzt
Dann wurde es russisch und mit Alexander Borodins "Polowetzer Tänzen" aus seiner Oper "Fürst Igor". Seine russische Kollegin Elena Kozemirenko hat aus Borodins Konzertfassung eine Orgelfassung für Stefan Kagl erstellt. Sehr geheimnisvoll registriert und leise schwebend, den tanzenden Mädchen entsprechend, spielte Kagl den ersten Tanz, an dessen Ende er das berühmteste Thema der Oper
fast beiläufig einführte. Das Allegro vivo begann er zurückgenommen verspielt, bis dann das zweite "Ohrwurmthema" der Komposition, der "Wilde Tanz der Männer", sehr prononciert und wuchtig erklang. Reizvoll gestaltete er den Kontrast dieser beiden Themen, des mädchenhaft schwebenden und des kraftvoll männlichen, immer drängender und spannender, bis sich nach der nun atemlos vom Tanzen klingenden Wiederaufnahme des orientalisch gefärbten Eingangsthemas das
Ganze in der mächtigen Coda am Schluss der Suite entlud. Modest Mussorgskys Suite "Bilder einer Ausstellung" ist in ihrer Klavierfassung, vermutlich mehr noch in Maurice Ravels Orchesterfassung, eines der bekanntesten Werke aus der russischen Spätromantik. Stefan Kagl hat sich seine Orgelfassung selbst erarbeitet und meint, dass er diese den Gegebenheiten der jeweiligen Orgeln immer wieder neu anpassen muss, dass sie so auch immer anders klingt und so auch für ihn selbst spannend bleibt.
Intensive Assoziationen
Zehn Bilder einer Ausstellung seines Malerfreundes Viktor Hartmann hatten Mussorgsky zu Kompositionen angeregt, deren Ideenreichtum immer wieder beweisen, wie sehr viel komplexer als die Bilder die musikalischen Vorstellungen waren, die sie in Mussorgsky auslösten.
Für Kagl scheint Ähnliches zu gelten, denn schon in den "Promenade" genannten Zwischenspielen spielte er mit den Stimmungen durch Nuancen wie unheimlich, zart, optimistisch, nachdenklich, feierlich oder fröhlich, wodurch er mit differenzierter Dynamik und Tempogestaltung und ausgefeilter Registrierung das wiederholte Motiv immer überraschend und interessant gestaltete.
Die einzelnen Bilder Mussorgskys sind natürlich für den passionierten Orgelversteher und Klangtüftler Kagl eine Herausforderung, der er sich mit einer ungemein ideenreichen Registrierung stellte: Den schleppenden Gang mit seinen unkontrollierten Ausbrüchen beim "Gnom" kommentierte er mit verrückten Einwürfen aus dem ganz hohen Register, dem unheimlichen alten Schloss näherte er sich ängstlich und sehr leise, bis dessen Größe sich in einem geschickt aufgebauten Wechsel aus Vorwärtsdrängen und Stocken manifestierte. Die Hektik in den Tuilerien fand ihren Gegenpol in der Gestaltung des alten schweren Karrens, bei dem der Organist nicht nur mit Lautstärke den vordergründigen Effekt des Näherkommens und Sich-Entfernens darstellte, sondern durch eine dichte und farbige Registrierung bis hin zu dem fast gehauchten, tonlosen Verklingen am Ende.
Giftige Überwältigung
In der Charakterisierung von Samuel Goldberg und Schmuyle zeigte er, dass der Einsatz wuchtiger tiefer Schwelltöne und fisteliger hoher Pfeifen sehr wohl wie ein Orchester sinnfällig werden lässt, wie der Mächtige den unterlegenen Kleinen überwältigen kann.
Auch beim Totengespräch in der unheimlich heraufbeschworenen Gruft oder der anarchisch wilden Welt der Hexe Baba Yaga vermochte Kagl zu zeigen, was man an Toneffekten und rhythmischen Finessen einer Orgel entlocken kann. Das Große Tor von Kiev mit seinem dichten Glockengeläute und den eingeschobenen choralartigen Partien gestaltete der Organist geradezu beklemmend mit einem sehr langsam ansteigenden Crescendo und Zurücknahme vor dem imposanten Schluss.
Das Publikum war gebannt und am Ende begeistert und holte Kagl mit heftigem Applaus immer wieder an den Emporenrand und wurde als Zugabe mit einer Sevillana von Eduardo Torres verabschiedet.