Wie hätten wir uns verhalten?
Autor: Thomas Ahnert
Maßbach, Freitag, 04. April 2014
Bertolt Brechts "Furcht und Elend des Dritten Reiches" in der Inszenierung von Christian Schidlowsky geht unter die Haut.
Es ist ein schwerer Brocken, den die Maßbacher da auf die Bretter des Intimen Theaters gestellt haben. Es ist ein Stück Geschichte, das man in einigermaßen sicherer Entfernung wähnte, weil es in einer Zeit spielt, die um die 80 Jahre zurückliegt. Aber es holt einen trotzdem ein, weil man sich nicht nur ständig fragt, wie das möglich war, dass sich so etwas wie das Dritte Reich in Deutschland ereignen konnte, sondern auch - und da entsteht immer noch der ganz
persönliche Bezug - weil man sich immer wieder klamme Gedanken macht über die Frage: Wie hätte ich mich damals verhalten. Denn Bertolt Brecht zeigt in seinem "Furcht und Elend des Dritten Reiches" keine großen Ereignisse der Geschichte, sondern er setzt ganz unten an, beim so genannten kleinen, gewöhnlichen Mann, bei Menschen, die so sind, wie wir heute auch sind.
Und das kann durchaus verstören.
"Furcht und Elend" ist kein durchkomponiertes Drama, sondern eine "Montage" (Brecht) aus 35 kleinen, nicht miteinander verknüpften Szenen, die Alltagssituationen von Menschen aus allen Schichten schildern. Brecht hat sie ab 1934 bis 1943 zunächst mit seiner Mitarbeiterin und zeitweiligen Geliebten Margarete Steffin im Exil zusammengetragen und geschrieben. Nach dem Krieg, kurz vor seinem Tod, kamen noch weitere dazu. Rein Formal sind sie Brechts Versuch, eine Collagetechnik mit seinen Strukturen des epischen Theaters zu entwickeln.
Jeder dieser Szenen ist ein kurzes Gedicht vorangestellt, das die folgende Szene zusammenfasst. Auch hier soll, wie etwa beim "Kaukasischen Kreidekreis", durch das vorherige "Verraten" des zu Erwartenden eine betrachtende Distanz des Zuschauers geschaffen werden, soll die Emotion zugunsten der Erkenntnis - und entsprechender persönlicher Schlussfolgerungen - zurück treten.
Irritierender Beginn
Christian Schidlowsky, der mit einem sechsköpfigen Schauspielerteam eine Auswahl von zwölf Nummern inszeniert hat, hat seinen Brecht geschickt unterlaufen, indem er gleich mit einer Verstörung begann. Denn der Zuschauer blickt auf einen leeren Bühnenraum in kaltem, blauem Licht (Bühnenbild: Andreas Wagner). Auf der Rückseite eine Wand, vielleicht eine Urnenwand, mit 15 Gefachen. Sie erweisen sich als eingeschobene Kästen, die im Verlauf des Stückes zu den einzigen Requisiten werden und durch kontinuierliche Veränderung der Zusammenstellung schließlich zu einem übermannsgroßen Hakenkreuz werden.
Und dazu Wagners Vorspiel zum "Rheingold". Die Verbindung von Fantasy und Mystifizierung wird perfekt, als sich sechs Wesen langsam durch die Seitenwände beamen, sechs Wesen in Raumanzügen aus der fernen Zukunft des Jahres 2014 (Kostüme: Christina Halbfas), die nicht verstehen können, was sie sehen, die es genauso wenig glauben wollen, wie wir das heute auch gerne täten - und die dieses Staunen als Ansager vor den Szenen in hochstilisierter Form durch das Stück tragen und den Schulterschluss zum Zuschauer finden.
Verdichtende Entpädagogisierung
Andererseits hat Christian Schidlowsky der aneinandergehängten und dadurch unangenehmen Pädagogisierung der Stücke entgegengewirkt, indem er sie ganz einfach verdichtet hat, indem er sie zum Teil ineinander verflochten hat - und indem er so dem Zuschauer wenig Gelegenheit zum Atemholen oder Loslassen gab.
Für Sandra Lava, Susanne Pfeiffer, Silvia Steger, Jens Eulenberger, Benjamin Jorns und Georg Schmiechen ist die Aufführung eine enorme Konzentrationsleistung- zu allerletzt wegen des ständigen Wechsels der Kostüme. Es gelingt ihnen geradezu erschreckend gut, ihre wechselnden Kostüme zu verinnerlichen, in ihren Rollen aufzugehen, sie ungemein plausibel ohne Distanzverlust zu spielen. Sicher genau das nicht, was Brecht wollte. Aber dadurch holen Schidlowsky und sein Team die Montage aus ihrer Zeitgebundenheit, machen sie auch dem heutigen Publikum erfahrbar.
Es sind wirklich Alltagsszenen, die Brecht gestaltet und Schidlowsky ausgewählt hat. Wenn man als Nachgeborenner nicht wüsste, wie sie enden, könnte man sie für harmlos halten. Aber genau das ist die enorme Leistung der Aufführung, dass sie gnadenlos die Abgründe sichtbar machen, die sich in den Szenen auftun: die ständige Angst, sogar vor dem eigenen Kind, das in der Hitlerjugend ist, der brutale Sieg der dümmlichen Nazischergen, die Hilflosigkeit der Gutmeinenden, die Wehrlosigkeit der Naiven.
Plötzlich kommen die Fragen
Besonders beeindruckend: "Die jüdische Frau", die Deutschland verlassen will, um ihren arischen Mann nicht zu gefährden, der gar nicht begreift oder ernst nimmt, was da passiert. Die Rolle hat Schidlowsky verdreifacht, um der Ausrede des Einzelschicksals den Boden zu entziehen.
Und plötzlich nisten sich die Fragen ein: Wo endet die Courage? Wo beginnt das Wegschauen, wo der Verrat? Wie hätte man sich selbst verhalten? Die Antwort möchte man lieber nicht wissen. Aber sie kann einen noch lange beschäftigen.