Druckartikel: "Schule ist nichts Verlässliches mehr"

"Schule ist nichts Verlässliches mehr"


Autor: Redaktion

LKR Bad Kissingen, Montag, 15. August 2022

Viele Eltern sind ausgebrannt, Kinder verunsichert. Wie es den Familien in Unterfranken geht und wo sie Hilfe finden, verrät die Psychologin und Familientherapeutin Verena Delle Donne.
Verena Delle Donne ist Leiterin der Erziehungs- und Familienberatung im Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Würzburg.


Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und die steigenden Preise durch die Energiekrise setzen Familien unter Druck. Hinzu kommt noch die Unsicherheit, wie es im Herbst mit Corona und der Schule weitergeht. "Viele Eltern sind müde und ausgebrannt", sagt Verena Delle Donne, Leiterin der Erziehungs- und Familienberatung im Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Würzburg. "Immer mehr Familien suchen Hilfe bei Beratungsstellen", berichtet die Diplom-Psychologin und Familientherapeutin im Interview.

Welche Themen belasten Familien derzeit am meisten?

Verena Delle Donne: Die Corona-Pandemie mit ihren Risiken, Ängsten und Beschränkungen hat Familien vor große Herausforderungen gestellt und das Familienleben sehr belastet. Viele Eltern berichten, dass ihr Nachwuchs seit Beginn von Corona reizbarer und aggressiver geworden ist und auch die schulischen Probleme zugenommen hätten. Viele Kinder hatten viel mehr Medienzeit, sie haben sich weniger mit Freunden getroffen und weniger bewegt als vor der Pandemie. Eine sehr große Schwierigkeit war der Wegfall von Betreuungsstrukturen, verbunden mit dem Irrglauben, dass Homeoffice und Homeschooling vereinbar sind.

Haben Familien in Krisenzeiten auch mehr Probleme?

Wir - und auch alle anderen Beratungsstellen - haben deutlich mehr Anfragen als vor der Pandemie. Und wir haben mehr schwerwiegende Fälle. Mit dem Krieg in der Ukraine, der Energiekrise und der Inflation sind weitere schwere Themen hinzugekommen, die bei vielen Kindern und Eltern Sorgen und Ängste auslösen.

Welche Ängste sind das?

Wir spüren bei den Familien eine allgemeine Unsicherheit. Die Familien wissen nicht, wie es im Herbst mit der Schule weitergeht, ob Unterricht stattfindet oder ein neuer Lockdown kommt. Hinzu kommen finanzielle Ängste. Werde ich meinen Job behalten? Werden wir die Gasrechnung bezahlen können? Die meisten Familien fühlten sich in der Pandemie allein gelassen. Auch gut funktionierende Familien haben nicht die Kraft, einen erneuten Lockdown mitzumachen.

Wie geht es den Kindern in Krisenzeiten?

Wir bemerken, dass die Schulschließungen etwas mit den Kindern machen. Denn nicht nur durch Corona, sondern auch durch den großen Personalmangel an den Schulen ist vielerorts der Unterricht auch im Sommer immer wieder ausgefallen. Das war früher undenkbar. Schule ist heute nichts Verlässliches mehr. Das setzt sowohl Eltern als auch Kinder unter Druck.

Was könnte die Politik im Herbst besser machen?

Wir Erwachsene haben immer viel auf die Kinder abgewälzt. Viele Einschränkungen begannen in den Schulen, zum Beispiel die Maskenpflicht oder das tägliche Testen. Meiner Ansicht nach wäre es stimmiger, wenn zuerst die Erwachsenen solche Vorgaben erfüllen, sich selbst täglich testen und eine Maske tragen - und dann die Kinder. Auch für den Online-Unterricht sollte jede Schule bis zum Herbst ein Konzept haben. Einfach Arbeitsblätter zu verteilen ersetzt nicht den Unterricht.

Bei welchen Problemen wenden sich Familien an eine Beratungsstelle?

Viele Familien wollen sich erst mal nicht eingestehen, dass sie ein Problem haben. Das liegt auch an unserer Gesellschaft: Wir müssen offener über Erziehungs- und Familienprobleme und über psychische Erkrankungen sprechen. Jede Familie denkt erst mal, das sie die einzige ist, die solche Probleme hat. Wir versuchen viel Öffentlichkeitsarbeit zu machen und auch Lehrerinnen und Lehrer zu schulen, dass sie Familien in die Beratungsstellen schicken.

Um welche Probleme geht es dann?

Wir beraten sehr breit bei allen Themen rund um das Familienleben. Es kann um Streitthemen zwischen den Eltern, Sorgen bezüglich der Entwicklung eines Kindes oder Schwierigkeiten im Kindergarten gehen. Ein komplexes Thema sind psychische Erkrankungen, sowohl bei Kindern als auch bei Eltern. Es gibt Eltern, die eine psychische Erkrankung haben, aber noch keine Diagnose. Viele kommen mehr oder weniger gut durchs Leben. Erst wenn sie Familie und Kinder haben, bemerken sie, dass etwas nicht stimmt.

Welche Erkrankungen sind das?

Sehr häufig handelt es sich um eine Depression. Jede vierte Frau in Deutschland hat in ihrem Leben mit einer Depression zu kämpfen. Das wirbelt den Alltag durcheinander und kann für Kinder zu einer extremen Belastung werden. Eine Mutter mit Depression kann zum Beispiel nicht immer mit ihrer Aufmerksamkeit beim Kind sein. Es kann sein, dass sie es nicht schafft, ein Pausenbrot zu machen. Auch die Emotionalität fehlt oft. Aber auch Angst- und Zwangserkrankungen sowie Persönlichkeitsstörungen und Schizophrenie kommen bei Erwachsenen vor.

Welche psychischen Erkrankungen kommen bei Kindern häufig vor?

Psychische Erkrankungen bei Kindern sind gar nicht so selten. Untersuchungen zufolge sind gut 17 Prozent der Drei- bis 17-Jährigen psychisch auffällig. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Die Haupterkrankungen sind ADHS, ADS (Hyperaktivität), Depressionen, Angst- und Essstörungen - und die komplette Palette an psychischen Erkrankungen. Kinder von Eltern mit einer psychischen Erkrankung haben ein erhöhtes Risiko, ebenfalls psychisch krank zu werden oder in anderer Weise psychisch auffällig und sozial benachteiligt zu werden.

Das Gespräch führte Claudia Kneifel.