Geldverleiher Shylock ist ein Nachbar
Autor: Gerhild Ahnert
Bad Kissingen, Mittwoch, 22. Januar 2014
Mit seiner Inszenierung holte Volkmar Kamm Shakespeares "Kaufmann von Venedig" in die Gegenwart.
Wie sagte doch weiland der deutsche Dichterfürst Goethe: "Shakespeares Theater ist ein schöner Raritätenkasten ... Seine Plane sind ... keine Plane..." William Shakespeare scherte sich nicht um das, was den peniblen Vertretern des Klassizismus so unerlässlich war: klare Struktur, Einheit der Zeit, des Ortes, eine geschlossene Handlung.
Und so verschränkt er in seinem tragikomischen Problemstück "Der Kaufmann von Venedig" die Märchenhandlung um drei Kästchen in Belmont, durch deren richtige Wahl man die reiche Erbin bekommt, mit der Misserfolgsgeschichte des reichen Kaufmanns Antonio und der kruden Historie um den Juden Shylock.
In der Bearbeitung von Volkmar Kamm wird diese Welt aus der Handelsmetropole Venedig des 16. Jahrhunderts in die Zeit des Raubtierkapitalismus des 21. Jahrhunderts verlegt. Damit werden die Anklagen, die der christliche Kaufmann von Venedig, Antonio an den jüdischen Geldverleiher Shylock richtet, zu vernichtenden Kommentaren unserer eigenen Gesellschaft des Börsenzockens, des existenzbedrohenden Job- oder Kapitalverlusts, und alle Vorwürfe des Christen treffen die damaligen Ankläger selbst.
Volkmar Kamm inszenierte seine Version von Shakespeares Stück für das Alte Schauspielhaus Stuttgart sowohl mit Blick auf die zeitliche Ferne wie auch die zum Teil beklemmende Nähe des Stücks. So kommen die reiche Porzia und ihre Zofe Nerissa uns wesentlich näher als zum Teil zickige, zum Teil auch vor fraulichem Selbstbewusstsein strotzende Powerfrauen.
Durch das Mitdenken der verschiedenen Zeitebenen als Inszenierungskonzept wird es dem Regisseur möglich, die für deutsche Zuschauer nach den Verbrechen Nazideutschlands an den Juden immer schwierig bleibende Interpretation des Shylock auf diesen zwei Ebenen anzusiedeln. So lässt er Shylocks Rachegelüste in der Gerichtsszene in ihrer ganzen Schrecklichkeit ausspielen. Doch hängt er, nachdem er das Happy End der Liebesgeschichten in drei Hochzeitspaaren schon vorgezogen hatte, an die ausgelassene Party der Christen zur Feier des Siegs über den Juden dessen Zwangstaufe als aggressiven Akt der Geißelung im Bühnenhintergrund an und lässt im Vordergrund das Haus in bedeutungsschweren Flammen aufgehen. Hier wird dem noch Minuten danach unter dem Schock des Erkennens stehenden Publikum klar gemacht, was 400 Jahre nach Shakespeare aus dem gegenseitigen Hass zwischen Juden und Christen wurde.
Verdeutlichung durch Umstellung
Kamm hat Shakespeares Text mal mehr, mal weniger stark bearbeitet, Szenen umgestellt, berühmte Passagen wie Portias Gerichtsrede oder Shylocks Toleranzrede aber auch sehr nahe an der in Deutschland geläufigen Schlegel-Übersetzung gelassen. Es ist ihm so gelungen, das Wesentliche der Geschichte sinnlich erfahrbar und mit Vergnügen genießbar zu machen. Die Zuschauer sahen nicht eine wortgetreue, ihnen aber fremde Wiedergabe eines alten, komplexen Klassikertextes, sondern hatten eine lebendige, spritzige, kurzweilige Begegnung mit einem vielschichtigen Werk der Literaturgeschichte.
Das Bühnenbild Konrad Kulkes mit den drei Behausungen seiner Protagonisten in den Ecken eines weit in den Bühnenhintergrund gezogenen Dreiecks, deren Eingangstüren Tresortüren darstellten, zu öffnen mit jeweils einem riesigen Drehmechanismus, dessen Vorderseite wohl nicht un-zufällig an das Symbol einer teuren Automarke erinnerte, lieferte die große Bühnenmetapher von der Allgegenwart und Allmacht des Geldes in dieser Gesellschaft.
Genaue Personenregie
Auch seine Schauspieler hat Kamm in genauer Personenregie und mit viel Sinn für bedeutungsvolle kleine und parodistisch ausgekostete große Gesten sehr gut geführt. Stefan Roschy war ein smarter Taugenichts Bassanio, Stefan Kierer als sein genauso nichtsnutziger wie vorlauter Freund Graziano gab genau einen solchen. Lorenzo, mittellos und deshalb begeistert von der Zuneigung der Tochter des reichen Juden zu ihm, ließ sich in Pedro Stirners Darstellung von Jessicas dominatem Ego und ihrem Geld sehr willig herumkommandieren. Kim Zarah Langner spielte eine sehr eindrucksvolle Jessica zwischen Sucht nach dem richtigen Leben und bitterer Reue über ihren Verrat an Shylock. Das Paar der steinreichen Rivalen Shylock und Antonio gaben Carsten Klemm und Andreas Klaue in einer in dieser Intensität ungewöhnlich deutlichen Gegensätzlichkeit. Melancholiker Antonio verfiel sehr schnell von kaltem, berechnend verletzendem Hass in eine tiefe Resignation und Todesangst, während Klemms Shylock changierte zwischen allen Facetten von verspielter Albernheit, inniger Vaterliebe, hemmungsloser Häme und versteinertem Entsetzen. Porzia und Nerissa, als Gattinnen Bassanios und Grazianos und als oberster Richter und Gerichtsschreiber Verbindungsglieder zwischen beiden Handlungen des Stücks, waren bei Alice von Lindenau und Maja Müller in sehr guten Händen.
Zum Publikumsliebling wurde Raphael Grosch, der als Narr und Diener Shylocks in einem frechen Rap vorab den Inhalt vorstellte und dann sämtliche Nebenrollen des eigenen Vaters, der beiden Prinzen, den Tubal und den Vizedogen von Venedig spielte. So war es ein geistreicher, ein auf der einen Seite immens vergnüglicher, auf der anderen Seite nachdenklich, betroffen machender Abend.