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Familientreffen der Kissingers


Autor: Redaktion

Bad Kissingen, Mittwoch, 21. Februar 2018

Gewöhnlich sind Stolpersteinverlegungen nie. Die neunte Aktion ragt aber heraus. Sie ist Anlass für eine Reise der Kissingers in die Kurstadt.
Am Haus Marktplatz 17 (Bildmitte) beginnt am Freitag die neunte Bad Kissinger Verlegung von Stolpersteinen.


Ein Familientreffen der Kissingers hat für Bad Kissingen immer besondere Bedeutung. Das ist schon am Namen abzulesen. Dazu kommt, dass die Kissingers eine jüdische Familie sind, die, wie die Steinbergers oder die Ehrlichs, vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten aus der Stadt und aus Deutschland fliehen mussten oder wie die Rosenaus, die Bloemendals und viele andere deportiert und ermordet wurden. Äußerer Anlass für das bevorstehende Familientreffen der Kissingers in Kissingen ist deshalb die neunte Verlegung von Stolpersteinen.

Vier der sieben kleinen Gedenksteine, die der Künstler Gunter Demnig am Freitag vor der letzten freiwilligen Wohnstätte der Opfer des Nationalsozialismus setzt, stehen für Mitglieder der Familie Kissinger. Die Aktion am Freitag, 23. Februar, beginnt um 9 Uhr vor dem Haus Marktplatz 17 mit Stolpersteinen für Selma Wolff, geborene Kissinger, und Ludwig Kissinger. Es folgen die Gedenksteine für Ernestine Mannheimer, geborene Kissinger (Kirchgasse 11), Cäcilie Rosenbaum, geborene Kissinger (Spargasse 9) sowie danach in der Hartmannstraße 5 für Hannchen Löwenthal, geborene Oberzimmer, und ihre beiden Töchter Ida Neuburger, geborene Löwenthal und Camilla Michels, geborene Löwenthal.

Wie gewohnt, begnügt sich die Initiativgruppe Bad Kissinger Stolpersteine nicht mit der Verlegung der markanten Betonwürfel mit Messingvorsatz, auf denen die Namen der Opfer des Nationalsozialismus stehen. Marlies Walter, Sigismund von Dobschütz und Barbara Thiele tragen mit biografischen Texten dazu bei, über die Erinnerung die Menschen, derer da gedacht wird, ins Leben zurückzuholen.


Geschäft für Herrenbekleidung

Selma Wolff kam nach den von Marlies Walter zusammengetragenen biografischen Angaben am 29. Mai 1877 in Kissingen als zweites Kind von Max Kissinger und seiner ersten Ehefrau Dina, geborene Frank, zur Welt. Der Vater habe am Marktplatz ein florierendes Herrenkonfektionsgeschäft mit Maßschneiderei besessen, in dem Selma mit drei Geschwistern und den zwei Halbbrüdern aus der zweiten Ehe des Vaters aufwuchs. Im Mai 1904, so Marlies Walter weiter, heiratete sie in Bad Kissingen den aus Bad Kreuznach stammenden Emil Wolff, der mit Alteisen und Lumpen handelte.

Aus der Ehe gingen die 1906 geborene Tochter Ellen Maria und die 1912 geborene Lore hervor, die beide in Bad Kreuznach zur Welt kamen. Beide Töchter konnten rechtzeitig aus Deutschland fliehen. Selma und Emil Wolff lebten vor ihrer Deportation in Köln, von wo aus beide am 30. Oktober 1941 in das Ghetto Litzmannstadt in Lodz deportiert wurden. Im Mai 1942 wurden Selma Wolff und ihr Mann von dort ins Vernichtungslager Kulmhof in der polnischen Stadt Chelmno verschleppt und ermordet.

Ludwig Kissinger war ein Halbbruder von Selma Wolff und kam am 9. Mai 1887 zur Welt. Zwischen 1897 und 1904 besuchte Ludwig die Kissinger Realschule, das heutige Jack-Steinberger- Gymnasium. Seine weitere Biografie ist von häufigen Wohnortswechseln geprägt. Von Ende November 1924 bis zum 1. März 1925 lebte er kurzfristig noch einmal in Bad Kissingen. Auf seiner Kissinger Meldekarte ist ohne nähere Ortsangabe vermerkt, schreibt Marlies Walter, dass er am 1. März 1925 weggezogen ist, mit der Angabe "auf Reisen".

Am 1. August 1928 wurde er aufgrund einer psychischen Erkrankung in eine jüdische Nervenheilanstalt in Bendorf-Sayn im Landkreis Mayen-Koblenz aufgenommen. Auf Anordnung der NS-Behörden wurden die Heimbewohner zwischen März und Juni 1942 deportiert. Ludwig verließ die Nervenheilanstalt am 14. Juni 1942 und wurde über Koblenz, Köln, Düsseldorf ins von Deutschland besetzte Polen in das Vernichtungslager Sobibor verschleppt. Unmittelbar nach seiner Ankunft im Vernichtungslager Sobibor wurde Ludwig Kissinger ermordet.


Von Kissingen nach Suhl

Ernestine Mannheimer, auch Dina genannt, wurde am 24. Juli 1872 in Bad Kissingen als erstes Kind von David Kissinger und seiner Ehefrau Sophie geboren. Wie Marlies Walter berichtet, wuchs Dina mit ihrer acht Jahre jüngeren Schwester Bertha in der Kirchgasse 11 auf. Im Juni 1896 heiratete sie in Bad Kissingen den Kaufmann Simon Mannheimer und zog mit ihm in seine Geburtsstadt Suhl in Thüringen. Ein Jahr später wurde dort im Mai 1897 Tochter Tilly geboren.

Die Familie Mannheimer lebte wohl bis zur Deportation in Suhl. Ernestine und Simon Mannheimer hatten miterleben müssen, wie ihr einziges Kind Tilly am 10. Mai 1942 ins von den Deutschen besetzte Polen in ein Ghetto nahe Lublin deportiert wurde, bevor sie selbst vier Monate später am 19. September ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurden. Im selben Transport befand sich auch Ernestines Cousine Cäcilie Rosenbaum aus Bad Kissingen.

Ehemann Simon Mannheimer fand nur fünf Monate später am 7. Februar 1943 in Theresienstadt den Tod. Ernestine Mannheimer wurde im Mai 1944 weiter ins KZ Auschwitz deportiert und ermordet. Als Todesdatum wird der 16. Mai 1944 angegeben. Auch Tochter Tilly starb.


Kindheit in der Spargasse

Cäcilie Rosenbaum, auch Cilly oder Zilla genannt, wurde am 8. Mai 1873 als zweites Kind des Viehhändlers Maier Kissinger und seiner Ehefrau Jeanette, geborene Uhlfelder, in Kissingen geboren. Mit ihren Brüdern Isidor und Daniel wuchs sie in ihrem Elternhaus in der Spargasse 9 auf. Mit 25 Jahren heiratete sie den sechs Jahre älteren Hermann Rosenbaum aus Gleicherwiesen in Thüringen. Sie zogen nach Gera. Nach dem Tod ihres Ehemannes führte Cilly mit ihrem Sohn die Viehhandlung weiter, bis Ludwig mit Frau und Sohn im Oktober 1938 die Flucht in die USA gelang. Die Pläne, dass Cilly in die USA nachkommen solle, zerschlugen sich. Am 19. September 1942 wurde Cäcilie Rosenbaum von Gera ins Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie am 15. Februar 1943 starb.

Gunter Demnig verlegt am Freitag außerdem Stolpersteine für drei Opfer des Nationalsozialismus, die nicht der Familie Kissinger angehören. Hannchen Löwenthal kam am 7. April 1855 als zweites von drei Kindern des Glasermeisters Oscher Oberzimmer und dessen Frau Luise, geborene Löwenthal, in Kissingen zur Welt. Der Vater, der wie seine Ehefrau alteingesessenen jüdischen Familien angehörte, führte nach den von Sigismund von Dobschütz verfassten biografischen Notizen in der Badgasse eine Handlung für Spiegel und Glaswaren. 1875 heiratete Hannchen den 27-jährigen Moses Löwenthal. Moses war der jüngere Bruder ihrer Mutter Luise. Hannchen heiratete also ihren nur sieben Jahre älteren Onkel.

Moses Löwenthal wurde in den Akten des Stadtarchivs zunächst als Viehhändler, später auch als Kurhausbesitzer geführt. Das Kurhaus muss Hannchens Elternhaus (Hartmannstraße 5) gewesen sein. Während Ehemann Moses 1915 im Alter von 67 Jahren starb, kamen Hannchen Löwenthal und ihre drei Töchter im Holocaust um.

Ida Neuburger wurde laut biografischen Notizen von Barbara Thiele als Ida Löwenthal am 15. April 1889 in Bad Kissingen als mittlere von drei Töchtern geboren. Ihre Eltern waren der Viehhändler Moses Löwenthal und seine Ehefrau Hannchen. Ida wuchs mit ihren Schwestern Hedwig und Camilla im Elternhaus in der Hartmannstraße 5 auf, in dem die Mutter auch Zimmer an Kurgäste vermietete. Mit 26 Jahren heiratete Ida 1915 den 38-jährigen Hirsch Neuburger aus Schweinfurt. Am 20. April 1920 wurde Sohn Max geboren. Er überlebte als einziger der Familie den Holocaust. Er lebte später in Kanada.

Ida Neuburgers jüngste Schwester Camilla Michels kam am 28. Juni 1890 in Bad Kissingen im Haus Hartmannstraße 5 zur Welt. Nach den biografischen Angaben von Sigismund von Dobschütz heiratete Camilla 1911 in Frankfurt am Main den 29-jährigen Julius Michels. Tochter Netti wurde ein Opfer des Holocaust. Den anderen drei Kindern gelang die Flucht in die Vereinigten Staaten. Camillas weiterer Lebensweg ist nicht dokumentiert.


Ohne Henry Kissinger

Zum Familientreffen der Kissingers wird Henry Kissinger, der berühmteste Sohn der Familie, nicht erwartet. Teilnehmer reisen aus Israel, Kanada, den USA, den Niederlanden, aus dem Raum Nürnberg und aus Berlin an. Siegfried Farkas