Druckartikel: Ein entstaubter Klassiker

Ein entstaubter Klassiker


Autor: Werner Vogel

Maßbach, Montag, 28. Oktober 2013

Goethes "Mitschuldige" feiern in Maßbach eine umjubelte Premiere.
Daniel Schwingel (links), Iris Faber und Ingo Pfeiffer in "Die Mitschuldigen" Foto: Sebastian Worch


Ein Dorfwirtshaus, wie es Johann Wolfgang von Goethe auf seinen Reisen zu Dutzenden erlebt haben mag, ist Schauplatz in seinem Frühwerk "Die Mitschuldigen". Das Etablissement hat schon bessere Tage gesehen, die handelnden Personen scheinen eher schlicht , ihre Charaktere schwarz-weiß gezeichnet. Es wird belauscht, gelogen, betrogen und gestohlen. Hier sind die Guten, dort die Schlechten.
Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Je länger das Stück fortschreitet, desto mehr mischen sich Dunkel und Hell. Alles, was klar schien, wird komplex. Das Genie des Dichterfürsten blitzt auf in den fließenden Reimen, in der Fülle der Einfälle, den Wendungen im Handlungsfaden und in den Wirrungen, in die er die Personen verstrickt. Auf höchst komödiantische Weise wird den Figuren ein Spiegel vorgehalten. So gesehen sind alle: "Die Mitschuldigen".

Voller Überraschungen

Da gibt es einen umtriebigen Wirt, der neugierig immer auf der Suche nach Geschichten und Skandälchen ist. "Mein Ruf hat lang gewährt und soll noch länger währen; es kennt die ganze Welt den Wirt zum schwarzen Bären", beschreibt er sich. Er scheint der Schlechte in dem Stück. Seine hübsche Tochter Sophie ist die Gute, will uns Goethe glauben machen. Doch so einfach ist die Sache natürlich nicht. So hat auch des Wirtes Töchterlein ihr Geheimnis, hängt ihrer alten Liebe nach. Den Ehemann, - er heißt Söller -, ein Spieler und Taugenichts, nahm sie aus Frust: "Der Söller kam mir vor, und ich, ich nahm ihn an; es ist ein schlechter Mensch, allein er ist ein Mann". Der Wirt poltert über ihn: "Er ist ein dummer Kerl, der doch zu gar nichts taugt, als dass er sich besäuft und etwas Tabak raucht." Söller ist also der ganz Schlechte, bestiehlt Alcest, den einzigen Gast des schwarzen Bären. Der wiederum ist reich und vornehm und - natürlich - Sophies verflossene Liebe: "Du warst mein ganzer Wunsch, du warst mein höchstes Gut; für dich schlug dieses Herz, dir wallte dieses Blut", seufzt sie. Der Ex-Liebhaber könnte also zu den Guten gehören, aber... Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.

Einfallsreiche Regie

Man kann davon ausgehen, dass Komödien die ganz große Stärke des Fränkischen Theaters Maßbach sind. Aber was Augustinus von Loë, der für Regie und Bühnenbild verantwortlich zeichne-
te, auf die nur circa 30 Quadratmeter "große" Bühne des intimen Theaters zauberte, war in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Schwarz-Weiß-Orange, die Farben des als Domino verkleideten Söller, wurden Gestaltungselement für die gesamte Einrichtung. Theke, Tisch, Wandschrank, Zimmeraufgang fielen, weil schräg, aus dem Rahmen.
Es geht im Leben eben nicht alles gerade - eine der Aussagen des Lustspiels -, spiegelten selbst die schiefen Wandbilder wieder. Wie sich die vier Darsteller dann in diesen schmalen Räumen bewegten, ständig ihre Positionen wechselten, Tisch, Schrank, Theke als Sitzplatz oder Versteck nutzten, war unglaublich einfallsreich. Effektvoll, wie in der Nachtszene sich die Protagonisten auf kleinstem Raum verstecken, gegenseitig belauschen, erschreckt durcheinander laufen und sich doch nie im Weg stehen.
Dass der im Stück beschriebene Wachsstock zur Taschenlampe wird, die als einzige Lichtquelle nur die Gesichter der Spieler erhellt, machte die Szene
beeindruckend gespenstisch. Der Weimarer Dichterfürst hätte sicher auch mit dem Maßbacher Publikum geschmunzelt, dass seine zeitbezogenen Verse durch wenige, neue tagespolitische Ergänzungen ersetzt worden sind. Ein Schelm, wer bei der "Beralen" genannten Partei, an die FDP denkt, und bei "Brüderlein, komm trink mit mir" an deren Spitzenkandidat.
Den politisch-moralischen Zeigefinger erhob Goethe auch in diesem Lustspiel, in dem er Söller - zeitlos gültig - sagen lässt: "Ja, ja, ich bin wohl schlecht; allein, ihr großen Herrn, ihr habt wohl immer recht? Ihr wollt mit unserm Gut nur nach Belieben schalten; Ihr haltet kein Gesetz, und andre sollen's halten?

Überzeugende Darsteller

Iris Faber bezauberte als Sophie mit ihrer natürlichen Ausstrahlung schon mit dem ersten Auftritt. Fleißig, nett, als folgsame Tochter des Wirts, ständig mit dem Wäschekorb hantierend, beginnt sie ihr Spiel, um später als übersehene Ehefrau und verlassene Geliebte alle Seelenqualen ausdrucksvoll zu gestalten. Wie sie den Wirt, ihren Vater, dazu bringen will, einen von ihm nicht begangenen Diebstahl zu gestehen, gehörte zu den szenischen Höhepunkten des Stücks.
Dazu hatte sie nicht nur in dieser Szene mit Ingo Pfeiffer, seit Jahren als Regisseur und Darsteller gleichermaßen bewährte Stütze der Maßbacher, einen kongenialen Partner, der als getriebener Wirt alle Nuancen der darstellenden Kunst in jeder Szene parat hatte.
Die Figur des Alcest versah Goethe durchaus mit eigenen Zügen, spielte sie 1877 in Weimar sogar selbst. Elegant, selbstbewusst, leicht überheblich und doch innerlich zerrissen, so wirkte auch Christoph Schulenberger. Wie sehr er seiner geliebten Sophie zugetan war, vermittelte er so überzeugend, dass man ihm hätte zurufen wollen: Gesteh ihr doch endlich deine Liebe.
Ein fulminantes Debüt legte Daniel Schwingel auf die Maßbacher Bühne. Im vorigen Jahr erst hatte er seine Ausbildung an der Wiesbadener Schule für Schauspiel abgeschlossen. Dort hat man ihn offensichtlich gründlich ausgebildet und sein Talent gefördert. Die schwierige Darstellung des zynischen Bösewichts, des verachteten Ehemanns und unverstandenen Schwiegersohns meisterte er überzeugend. Auch seine Ballettausbildung muss er ernst genommen haben, wie sonst könnte er sich so geschmeidig bewegen, sich hin und her über den Tisch schwingen, auf den Schrank springen und minutenlang in dessen Schräge der Schwerkraft trotzen.
Kostüme, Beleuchtung, Dramaturgie fügten sich bei dieser Premiere zu einem abgestimmten harmonischen Ganzen. Minutenlanger Beifall, rhythmisches Klatschen und viele "Vorhänge" dankten den Schauspielern. Ein so entstaubter Klassiker bleibt modern.