NRW Juniorballett mit packendem Gastspiel im Kurtheater
Autor: Gerhild Ahnert
Bad Kissingen, Sonntag, 19. November 2017
Das NRW-Juniorballett unter Leitung von Demis Volpi liefert beeindruckende Inszenierung von Agatha Christies Krimiklassiker "Mord im Orientexpress" ab.
Es braucht keinen Splatterfilm, um dem Zuschauer einen Lynchmord an einem von der Polizei nicht ergreifbaren Täter in aller Drastik vor Augen zu führen. Den Krimi über den gemeinschaftlichen Mord von zwölf Messerstechern an einem Kindesentführer und Mörder hat Agatha Christie 1934 geschrieben und in das damals denkbar mondänste Etablissement, den Prominenten-Luxuszug "Orientexpress", verlegt. Ihr Roman "Mord im Orientexpress" wurde zu einem internationalen Erfolg, der bereits mehrfach verfilmt wurde.
Doch darum ging es beim Gastspiel des NRW-Juniorballetts im Rahmen des Bad Kissinger Theaterrings im Kurtheater gar nicht. Vielmehr wollte der Choreograph Demis Volpi die Geschichte des staunenswerten mechanischen Monsters, das durch einen Schneesturm auf offener Strecke zum Stillstand gebracht wird, die majestätische Winterlandschaft und die klaustrophobische Situation der verschreckten Passagiere nach einem Mord mit möglichst vielen Sinnen erfahrbar machen.
Das Bühnenbild mit den verspiegelten größeren und kleinen Würfeln, die mal zur bedrohlichen Silhouette der Lokomotive, mal zu kleinen Abteilen zusammengebaut werden konnten, machte der Fantasie den Weg frei und verhalf der Inszenierung zum nötigen Tempo. Kleine Accessoires wie Pistolenhalfter und sparsam eingesetzte Farben verwiesen auf reale Bezüge dieses in schwarzen Anzügen und langen weißen Hemden getanzten "Ballet of Crime". Tatyana van Walsum, Ausstatterin bei der Salzburger "Aida", hat die Bühnenausstattung konzipiert und die kanadische Lichtdesignerin Bonnie Beecher, hat sie raffiniert in Szene gesetzt.
Das Ballett Dortmund, zu dem das 2014 ins Leben gerufene Juniorballett gehört, hat für seine Nachwuchstänzer international renommierte Partner und mit dem Cranko-Schüler Demis Volpi einen ebenso gefragten Choreographen als künstlerischen Gesamtleiter engagiert . Und der wiederum hat drei Kollegen hinzugeholt, die jeweils drei Mittelpassagen gestaltet haben. So bezieht der Australier Craig Davidson in "Das Opfer" zur nervös-drängenden Musik von Philip Glass die Vorgeschichte um die kleine, entführte Daisy Armstrong in das Geschehen ein. Zu György Ligetis "Lontano für großes Orchester" nutzt der Spanier Juanjo Arqués die vielfach verspiegelt Bühne geschickt, um die nicht fassbare Identität der Zeugen, die ja gleichzeitig alle Mörder sind, darzustellen. Eine Choreographie zum Durchatmen in der intellektuell fordernden und gelegentlich sehr abstrakten Welt dieser Inszenierung bietet Xenia West in ihrer fast parodistischen Darstellung aller Krimi-Spürnasen in "Der Detektiv" zu Duke Ellingtons "Caravan".
Demis Volpi machte den Anfangsteil "Der Zug" mit dem ruppigem Anfangssatz aus Evan Chambers "Concerto for Fiddle, Violin and Orchestra" zu einem Auftakt mit großer Vehemenz. Er ließ die Tänzer auch die Hektik der Schubstangen der Lokomotive und die beeindruckende Kraft der Maschine verdeutlichen. Der Kontrast zum Lullaby-Satz aus diesem Konzert war äußerst überraschend: Volpis Gestaltung der ersten der vier Schneelandschaften, setzte der rohen Kraft eine plötzlich ruhige Winterlandschaft draußen vor dem Zug entgegen. "Keine Spuren im Schnee" und "Jedermanns Nirgendwo" spielten mit der krimityischen Spannung. Sie ließen das Ensemble mit Taschenlampen im Halbdunkel suchen, zeigten die Verunsicherung der Passagiere mit genauer Mimik und Körpersprache angesichts des Schocks über das Geschehen und des überall drohenden Mörders.
Die sehr sperrige Komposition "Krunk für Stimme und Klavier" machte "Jedermanns Nirgendwo" zu einer fast an die manipulatorischen Effekte von Filmmusik erinnernden Hinführung zum großen Finale, das Volpi zu einem wahren Showdown gestaltet. Alle zwölf Tänzerinnen und Tänzer bringen den Verbrecher zur Strecke, greifen ihn einzeln an, lassen ab, lassen sich das Publikum minutenlang fragen, wie schlimm es noch kommen kann, wie lange auch der grandiose Tänzer Daniel Leger die dargestellte Tortur noch aushalten kann.
Am Schluss gab es viel Staunen über die fulminante Leistung der jungen Truppe, die zu immer größerer Präzision fand und wunderbar zusammenarbeitete - die die Unterschiedlichkeit der einzelnen Charaktere herauszuarbeiten verstand und 80 Minuten raffiniertester Einfälle nahtlos durchzutanzen in der Lage war. Die Spannung im Theater hielt über die gesamte Dauer der Aufführung und am Schluss entlud sie sich in immer wieder aufbrandendem Applaus für die Dortmunder Tänzer, die ein grandioses Debut in Bad Kissingen gegeben hatten.