Neue Blicke auf Altbekanntes
Autor: Thomas Ahnert
Bad Kissingen, Donnerstag, 02. Juli 2015
Das BBC Symphony Orchestra London unter der Leitung seines finnischen Chefdirigenten Sakari Oramo und der Pianist Igor Levit spielten Beethoven, Sibelius und Grieg.
Es war ein Konzert, das zweifellos als Sternstunde nicht nur des Kissinger Sommers 2015 in die Annalen des Festivals eingehen wird: das Gastspiel des BBC Symphony Orchestra London unter der Leitung seines finnischen Chefdirigenten Sakari Oramo und im Zusammenwirken mit den Pianisten Igor Levit.
Das Orchester hat seit seinem letzten Gastspiel vor drei Jahren eine ganz erstaunliche Entwicklung durchgemacht.
Es hat den Dirigenten, den es wirklich wollte, den es vorbehaltlos akzeptiert.Und wenn man ihn bei der Arbeit sieht, merkt man auch warum. Er ist kein Orchesterleiter, der sich in den Vordergrund dirigieren muss, sondern dem die Musik ein Anliegen ist und der zu erkennen gibt, dass ihm seine Arbeit großen Spaß macht. So etwas überträgt sich natürlich auf die Musiker und, was genauso wichtig ist, auf das Publikum.
Und er ist ein Dirigent, der sehr genaue Vorstellungen von dem hat, was er will, und der das dem Orchester auch wirklich mitteilen kann. So gerät er in der Konzertsituation nicht unter Druck, kann sich auf steuernde Hinweise beschränken und sich ansonsten weitgehend zurücknehmen - oft setzt er seinen linken Arm überhaupt nicht ein.
Außerdem hat das Orchester einen neuen Konzertmeister, der eine ausgezeichnete Arbeit macht. Noch ist er Gast, aber die Verantwortlichen hoffen, ihn halten zu können.
Beste Voraussetzungen für ein spannendes, spektakuläres Konzert. Gleich das erste Werk war ein Prüfstein: Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite Nr. 1. Das sind vier Sätze, die starken erzählerischen Charakter haben, die mit Lautmalerei arbeiten, mit fein differenzierten Klangfarben wie in der "Morgenstimmung", mit dem Tonfall der schmerzlichen Trauer in "Aases Tod", mit der tänzerischen Steigerung in "Anitras Tanz" und mit protzigem Getöse in der "Halle des Bergkönigs". Sakari Oramo erwies sich hier als ein Dirigent, der eher vom Unplakativen, Kammermusikalischen kommt, der gerne leise ansetzt, um sich dynamische Spielräume offen zu halten und laute Wucht erst dann zu erzeugen, wenn sie wirklich Sinn macht.
Jenseits der Konfrontation
Ein seltenes Erlebnis - das muss man wirklich so sagen - war das Klavierkonzert Nr. 5 von Ludwig van Beethoven, das man eigentlich zu kennen glaubte. Denn Sakari Oramo und Igor Levit brachten einen ungewohnten Ansatz. Sie verstanden das Konzert nicht als Konfrontation von Solist und Orchester - was man natürlich machen kann. Sondern sie sahen sich als Partner im Zusammenwirken. Die Folge war, dass der Solist, wenn er seine Passagen gespielt hatte, sich nicht auf Standby zurückfallen ließ, sondern dass er am Ende auf das Orchester zuspielte, dessen Einsatz vorbereitete wie bei der Stabübergabe eines Staffellaufes - und umgekehrt. Das erhöhte die Verpflichtung, aufeinander eingehen zu müssen. So entstanden spannende Verschmelzungen der individuellen, solistischen und der kollektiven, orchestralen Ebene. Dazu kam eine wunderbare Zusammenarbeit Levits mit den Holzbläsern, die beste kammermusikalische Delikatesse verriet - und eine intensive Probe. Dass es sich Sakari Oramo leisten konnte, angesichts einer ganz auf Spannung ausgelegten differenzierten Agogik des Solisten den langsamen Satz wirklich langsam zu spielen, war für das Orchester eine wunderbare Herausforderung.
Der Beifall war heftig. Als Zugabe spielte Igor Levit "als Dank an das Orchester" die tiefgründige "Fantasy on Peter Grimes" des kürzlich gestorbenen englischen Komponisten Ronald Stevenson.
Geduldiger Klangzauberer
Bei Jean Sibelius war wieder der Klangzauberer Oramo gefragt: "Szene mit Kranichen" geriet zu einer außerordentlich sensibel musizierten, feinen Klangstudie über den hohen Streicherton. Und bei der "Valse triste" bewährte sich die dynamische Geduld des Dirigenten. Er ließ sich einfach nicht dazu hinreißen, den Schleier der Trauer zu früh zu zerreißen und die Wucht des Aufbegehrens zu beschädigen.
Bei Beethovens 4. Sinfonie galt dasselbe wie bei seinem 5. Klavierkonzert: ein altbekanntes Werk mit völlig neuen Aspekten. Die Themen sind bekannt, und andere Orchester können sie auch sehr schön spielen. Aber Oramo zielte besonders auf die rhythmischen Verläufe und ihre Überraschungen, die gerne im Überschwang der Melodien untergehen. Aber die Londoner musizierten so transparent, dass man wirklich echte Entdeckungen machen konnte. Der Schluss war typisch: Da nahm Oramo zur Generalpause vor der kurzen Stretta das Tempo so stark heraus, dass man befürchtete, die Musik würde zum Stillstand kommen. Die überfallartigen Schlussakkorde bekamen dadurch eine mitreißende Wirkung.Großer Jubel: Die Zugabe der Londoner war die Ouvertüre zu der Suite Nr. 1 "The Wand of Youth", ein Einfall des zehnjährigen Edward Elgar, den er später orchestriert hat.