Medea hat viele Schwestern
Autor: Thomas Ahnert
Maßbach, Montag, 27. Juli 2015
Eine Dreiviertelstunde spannender Monolog: Johanna Maria Seitz spielte den "Medeakomplex", den sie mit der Regisseurin Anna Magdalena Berndt geschrieben und erarbeitet hat.
Wie lebst du in den Trümmern deines Leibs mit den Gespenstern deiner Jugend?"Der Satz von Heiner Müller steht wie ein Leitmotiv, das jetzt in der "Besonderen Reihe" im Intimen Theater seine Uraufführung erlebte: "Medeakomplex", entstanden in der schreibenden Zusammenarbeit der Regisseurin Anna Magdalena Berndt und der Schauspielerin Johanna Maria Seitz.
Es ist kein einfaches Thema, das die beiden jungen Autorinnen in die Gegenwart geholt haben: Medea ist eine der schillerndsten und rätselhaftesten Figuren der griechischen Mythologie und der Weltliteratur, auch biographisch nur schwer zu durchschauen. Die zauberkundige Tochter des Königs Aietes von Kolchis am Schwarzen Meer hilft den Argonauten, das von ihrem Vater gehütete Goldene Vlies zu rauben. Sie flieht mit dem Anführer Iason und nimmt dabei den Tod ihres Bruders in Kauf.
Sie hinterlassen eine nicht ganz unblutige Spur, bis sie heiraten und sich mit ihren zwei Söhnen in Korinth niederlassen. Dann verlässt Iason Medea, um die Tochter des korinthischen Königs Kreon zu heiraten. Medea sucht Rache: Sie ermordet Kreon, dessen Tochter (und ihre Rivalin) Tochter und auch ihre eigenen beiden Kinder. Sie flieht nach Athen, heiratet König Aigeus, flieht weiter nach Asien, wo sich ihre Spur verliert.
Medeas Schicksal
Auch Maria, die Akteurin in dem Ein-Personen-Stück (allerdings mit einer stummen männlichen Rolle) wird heimatlos, als der Student Jannes, der sich für die Kunst ihres Vaters interessiert, sie aus Aserbeidschan nach Deutschland holt. Ihr Schicksal ist typisch: Jannes wird Oberarzt, dann Chefarzt. Maria setzt ihr Studium nach der Geburt ihrer beiden Söhne aus, bis sie es ganz aufgibt - das seit der Antike bekannte Rollenschema.
Das Stück setzt schicksalsträchtig ein mit der Trauerfeier für Jannes. Den hat eine Kugel am offenen Schlafzimmerfenster niedergestreckt, und niemand weiß, wie das geschehen konnte und vor allem nicht,warum.
Wie war Jannes wirklich?
"Ich will euch erzählen, wie Jannes wirklich war", sagt Maria zu der Trauergemeinde (dem Publikum), in der wenigstens noch ihre beiden Söhne sitzen. Und dann beginnt sie mit leiser Stimme zu erzählen.
Eigentlich ist es der Beziehungskitsch der ersten Liebe, der Idealisierung des Partners, den Maria da aufrollt. Aber man weiß, dass das nicht alles sein kann. Und als sie merkt, dass die Gemeinde mehr an der trauernden Witwe als an dem toten Arzt interessiert ist, bricht sich in ihrem Bericht die Realität immer mehr Bahn, verdüstert sich das Bild. Jannes hat immer mehr das Interesse an Maria verloren, hat sich eine andere gesucht.
Und mit einem - und letzten - Schlag wird deutlich, dass Maria Jannes aus Eifersucht selbst getötet hat.
Da ist nur eine Dreiviertelstunde vergangen, aber eine höchst spannende, die dem Zuschauer kein Abschweifen gestattet, weil ihn sein Gegenüber nicht entlässt. Es ist der dichte, geschickt mit antiken Zitaten spielende Text, der zielgerichtet auf die Katastrophe zutreibt, ohne das Ende preiszugeben.
Hochkonzentrierte Inszenierung
Es ist die Inszenierung, die auf jede Ablenkung verzichtet, die keinerlei Leerlauf zulässt und keinerlei Ablenkung durch ein verspieltes Bühnenbild: Ein bisschen Grabschmuck und ein großes, die Bühne abteilendes weißes Tuch genügen. Hinter dem taucht, wie in der Erinnerung, schemenhaft beleuchtet, Jannes (Benjamin Jorns) auf.
Erst als Maria das Tuch herunterreißt, tritt er in die Realität ein, wird der Konflikt greifbar - eine spannende Darstellung von Trauerarbeit.
Faszination des Leisen
Und es ist die Darstellung von Johanna Maria Seitz. Sie wird nur einmal laut, als sie das trennende Tuch herunterreißt. Ansonsten spielt sie äußerst geschickt mit den Nuancen des Leisen, der Verletzlichkeit, die den Zuschauer zum Voyeur machen, der aber zuhören muss, um keine der Nuancen zu verpassen. Auch in ihren Bewegungen, in ihrer Mimik ist sie sparsam, nach Innen gerichtet, aber sie ist ständig mit dem Zuschauer in Kontakt.
Heiner Müllers Frage muss offen bleiben, weil die Antwort den Rest des Lebens auch zerstören könnte. Ein in seinem lakonischen Gestus großartiges Stück und ebenso großartig gespielt. Wirklich schade, dass es in Maßbach nur einmal zu sehen war. Aber sonst wäre die Reihe ja auch keine besondere.