Literatur am Nachmittag: Sigismund von Dobschütz liest nicht mehr
Autor: Anja Greiner
Bad Kissingen, Dienstag, 17. November 2015
Sechs Jahre hat Sigismund von Dobschütz einmal im Monat die Weltliteratur in den Wintergarten des Burkardus Wohnpark gebracht. Jetzt gab er seine Abschiedsvorstellung - mit dabei: Sherlock Holmes und Dr. Watson.
Es war ein Mittwoch, der 22. Juli 2009, als Fjodor Dostojewski das erste Mal im Burkardus Wohnpark in Bad Kissingen vorbeikam. Sigismund von Dobschütz hatte den russischen Autor und die zugehörige Novelle "Weiße Nächte" mitgebracht.
"Literatur am Nachmittag" hieß die damals ins Leben gerufene Veranstaltung. Die erste Lesung fand noch in der kleinen Bibliothek des Wohnparks statt, bereits zur dritten kamen so viele Zuhörer, dass von Dobschütz
fortan im größeren Wintergarten zu lesen begann. Am vergangenen Montagnachmittag trat von Dobschütz nach sechs Jahren und 75 Geschichten das letzte Mal vor das braune Rednerpult.
Von Sherlock Holmes bis Kishon
Diesmal hatte er ebenfalls einen großen Herren der Weltliteratur mitgebracht - einer, der für die nachfolgende Szene wohl die Worte verwendet hätte: Das, mein lieber Watson, sind die Tatsachen: Bis auf
das Mikrofonkabel, das ein wenig unbändig aus der Einstecktasche des Sakkos quillt, sitzt bei dem letzten Auftritt von Sigismund von Dobschütz alles perfekt. Mittelblaue Krawatte auf hellem Hemd, dunkelgrauer Anzug, hinter ihm an der Wand hängt ein Kruzifix und das Zeichen für den Notausgang, vor ihm auf dem Pult liegen knapp Hundert Seiten, akkurat gestapelt. Notizen auf jeder Seite - Punkte unter den Silben heißt betonen, Striche bedeuten eine Pause.
Über dem ausgedruckten Text steht handschriftlich: "Dr. Watson berichtet". Eine gute Stunden liest von Dobschütz nun die von Sir Arthur Conan Doyle verfasste Sherlock Holmes Geschichte "Die Bruce-Partington-Pläne".
Rund 45 Zuhörer sind gekommen, ein üblicher Durchschnitt. Bei seinen ersten Lesungen hatte von Dobschütz noch abgefragt, wer hier wohne. Gut zwei Drittel kamen jedesmal von auswärts. Was sie zu hören bekamen reichte von anspruchsvoll - "Bahnwärter Thiel" von Gerhart Hauptmann - über aktuelle Literatur - "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" von Jonas Jonasson - bis hin zur Satire von Ephraim Kishon.
Es mussten Texte sein, sagt von Dobschütz, die nicht allzu viel wörtliche Rede enthielten - die einzelnen Stimmen so zu unterscheiden, dass das Publikum noch mitkommt, ist die Königsdisziplin des Vorlesens. Von Dobschütz fiel das immer ein wenig schwer. Weitere Auswahlkriterien waren, dass der Text innerhalb von einer Stunde erzählt werden konnte und wenn er einmal einen Roman ausgewählt hatte, musste er entsprechende Kapitel aussuchen und eine eigene Rahmenhandlung dazu schreiben, damit am Ende alles auch für die Zuhörer einen Sinn ergab. "Die Vorbereitung für einen Abend lag meist zwischen acht und zehn Stunden."
Ein Grund zum Aufhören
Es ist nicht unbedingt der Aufwand, der ihn zum Aufhören veranlasst, vielmehr die strikte Planung. Die Termine für die monatlichen Lesungen waren ein Jahr im Voraus festgeschrieben.
"Ich habe meinen Urlaub nach den Lesungen gerichtet." Alfred Schymik hat sich während der Sherlock-Holmes-Geschichte ab und zu ein Grinsen nicht verkneifen können, er hat sich dann ein bisschen nach vorne gelehnt und hinter der großen Brille haben sich Fältchen um die Augen gebildet. Alfred Schymik ist mit seiner Frau hier, beide wohnen nicht im Wohnpark, sie war in den vergangenen Jahren öfter dabei als er. "Er hat eine Gabe", sagt Ursula Schymik und meint von Dobschütz. "Er liest so, dass die Geschichten lebendig werden." So manches Buch habe sie nur gekauft, weil von Dobschütz es einmal angelesen hatte.
Ganz hinten, am letzten Tisch, sitzt die Facebook-Fan-Gruppe. Von Dobschütz hat sie ins Leben gerufen mit dem Titel: "Bücherkabinett Bad Kissingen". Er gibt dort Büchertipps - zuletzt hatte er unter anderem "Kindeswohl" von Ian McEwan empfohlen. Privat, sagt er, lese er querbeet: Von philosophisch anspruchsvoll wie "Die Erfindung des Lebens" von Hanns-Josef Ortheil bis Schweden-Thriller wie "Die Menschen, die es nicht verdienen" von Hjort und Rosenfeldt. Lesen und vor allem Vorlesen, das hatte von Dobschütz immer schon gern gemacht, hatte schon für den Kinderfunk des NDR Hörbücher eingesprochen. Mit einer Zusage der Hamburger Schauspielschule in der Hand, hatte von Dobschütz sich damals dann doch für eine Lehre als Diplom Kaufmann entschieden, wurde schließlich Kurdirektor der Stadt Bad Kissingen. Als er in den Ruhestand ging, begann er wieder zu lesen. Immer ehrenamtlich. Spenden für den guten Zweck, sagt er, seien aber immer willkommen.
Sigismund von Dobschütz wird auch jetzt nicht ganz aufhören zu lesen, er wird es nur künftig seltener tun. Im Bücherpavillon in Bad Bocklet zum Beispiel, oder im Februar nochmals im Wohnpark. Zwei Kurzgeschichten wird er lesen, von Agatha Christie. Alfred und Ursula Schymik nicken anerkennend, auch die anderen Zuhörer freuen sich - manch einer ist auch gerade erst wieder aufgewacht.