Lieder, Gedichte und ein Orakel
Autor: Robert Huger
Nüdlingen, Dienstag, 23. Dezember 2014
Luise Mahlmeister wohnt schon seit ihrer Geburt in Nüdlingen. Das Weihnachtsfest sah in ihrer Kindheit noch etwas anders aus als heute. Die Feier war eher schlicht und nach dem Fest waren die Zwiebeln von großer Bedeutung.
Nüdlingen — Da hätte manches Kind von heute blöd aus der Wäsche geschaut: Vor über 60 Jahren lagen an Weihnachten kein Smartpone, kein Tablet und kein Laptop unter dem Baum. "Es hat nur das gegeben, was es an Kleidung brauchte", sagt Luise Mahlmeister. Das heißt in aller Regel selbst gestrickte Socken und vielleicht noch ein paar Malstifte oder ein neuer Anstrich für das Schaukelpferd.
"Spielkarten waren schon eine Sensation", sagt Luises Mann Rudolf Mahlmeister. Für die Kinder gab es neben selbst gestrickten Socken und Handschuhen aber auch einfache Gesellschaftsspiele. Ein opulentes Abendessen kam ebenso wenig auf den Tisch. Es gab eine Brozeit mit ein paar Plätzchen. "Das war ein normales Abendessen", erzählt Luise Mahlmeister.
Schließlich hatten die Menschen auch wenig Zeit zum Kochen, da erstmal das Vieh im Stall versorgt werden musste, das zum Weihnachtsfest eine extra Futterration bekam.
Gesang, Gebete, Gedichte
Am Abend versammelte sich die Familie zum gemeinsamen Musizieren und Beten. "Früher waren die Jugendlichen mehr gemeinschaftlich aktiv", sagt Luise Mahlmeister, "heute sitzen alle vor dem Fernseher und lassen sich berieseln." Die heutige Jugend sei eigentlich nicht verkehrt, aber ein klein wenig verwöhnt durch den Wohlstand.
In all der Zeit hat sich erhalten, dass die Kinder zur Weihnachtszeit in der Schule Gedichte lernen müssen. Luise Mahlmeister und ihr Mann Rudolf können sich besonders an ein ganz bestimmtes noch gut erinnern: "Festgemauert in der Erde steht die Form aus Lehm gebrannt, heute muss die Glocke werden, frisch Gesellen seid zur Hand", rezitieren sie die ersten Verse aus "Das Lied von der Glocke" von Friedrich Schiller.
Das Zwiebel-Orakel
Noch wichtiger als Gedichte war damals das Wetter, wegen der Ernte. Unmittelbar nach Weihnachten begannen die zwölf Rauhnächte oder auch Orakelnächte - sechs davon im alten Jahr und sechs im neuen. Jeden Tag wurden die Schalen von einem Dutzend Zwiebeln vor die Tür gestellt. Jeder der zwölf Zwiebelschalen wurde ein Monatsname zugeordnet und anschließend wurden sie mit Salz bestreut. Je nach dem, wie sich die Schalen veränderten, wurden Rückschlüsse auf das Wetter des jeweiligen Monats des nächsten Jahres gezogen. Waren die Schalen nass, wurde das Wetter schlecht. Waren sie trocken, konnte man mit Sonnenschein rechnen.
Doch nicht nur Zwiebeln, sondern auch die Bauernregeln sollten helfen, das Wetter fürs nächste Jahr vorherzusagen. "Ist es im Dezember veränderlich mild, ist der ganze Winter ein Kind" oder "Wenn man den Dezember soll loben, muss er frieren und toben", heißt es im Volksmund. Bei einem kalten Winter rechneten die Landwirte also mit einer ertragreichen Ernte im nächsten Jahr.
Das Wetter ist den Mahlmeisters heute natürlich nicht mehr so wichtig. An Heilig Abend kommen Kinder und Enkel zu Luise und Rudolf nach Nüdlingen. Nach dem gemeinsamen Essen (Pastete und Wiener mit Kartoffelsalat) werden meist Gedichte aufgesagt, es wird gesungen und jeder leistet einen künstlerischen Beitrag, ganz wie früher. Der Fernseher bleibt aus. "Es gibt genug Unterhaltung", sagt Luise Mahlmeister, "bei uns weiß jeder etwas zu berichten."
Bei so vielen Personen - vier Kinder, sechs Enkel und ein Urenkel - gibt es keine großen Geschenke. Jeder bekommt etwas Geld und eine Kleinigkeit. "Ich renne doch nicht herum und kaufe für 20 Leute ein", sagt Luise Mahlmeister.
So manches Jahr haben auch Flüchtlinge im Haus der Mahlmeisters Weihnachten gefeiert. Sudeten- und Ungarndeutsche waren damals zu Gast. Teilweise wohnte mehr als fünf Menschen als zusätzliche Gäste mit im Haus. "Heute wird ein Theater darum gemacht", sagt Rudolf Mahlmeister. Früher sei das einfacher gewesen. Der Bürgermeister sei mit 30 Leuten quer durch den Ort gelaufen und habe sie einfach auf die Häuser der Dorfbewohner verteilt. "Es war aber einfacher, weil die Menschen schon Deutsch sprechen konnten", räumt Rudolf Mahlmeister ein.