Druckartikel: Landkreis Bad Kissingen: Gemeinsamer Kampf gegen die Pfunde

Landkreis Bad Kissingen: Gemeinsamer Kampf gegen die Pfunde


Autor: Ralf Ruppert

Bad Kissingen, Montag, 26. März 2018

Adipositas wird immer mehr zur Volkskrankheit. Die Reha-Kliniken stellen sich darauf ein, eine Selbsthilfegruppe tauscht Erfahrungen aus.
Chefarzt Dr. Klaus Herrmann leitet die Patienten Annegret Hohenfeld  und  Lutz Hähnel an. Ralf Ruppert


Irmgard Van de Weyer hat einen langen Leidensweg hinter sich: "Zum ersten Mal ist es mit mit zehn Jahren bei der Erstkommunion klar geworden", erinnert sie sich. "Weil es kein Kleid in meiner Größe gab, musste ich einen Rock und eine Bluse tragen." Mit 13 Jahren hatte sie dann auch die medizinische Bestätigung: Adiposogigantismus wurde bei der Jugendlichen festgestellt, also viel zu groß und zu schwer für ihr Alter. Die Diagnose beschäftigt die 66-Jährige bis heute, ihre Erfahrungen teilt sie in der Bad Kissinger Adipositas-Selbsthilfegruppe.
"Ich bin eine Mondfrau - mit zu- und abnehmenden Phasen", fasst Irmgard Van de Weyer das Verhältnis zu ihrem Körper zusammen. Wenn sie frisch verliebt gewesen sei, habe sie auch mal zehn Kilogramm abgenommen. In schwierigen Phasen dagegen greifen die üblichen Redewendungen: Die Bad Kissingerin habe eben an Problemen "zu kauen" und "fresse" die Sorgen in sich hinein. "Adipositas hat viele psychische Aspekte, da äußert sich oft der Hunger der Seele", sagt Irmgard Van de Weyer.
Deshalb sei der Austausch mit anderen Betroffenen auch so wichtig: Ursula Nickel aus Nüdlingen initiierte vor fünf Jahren deshalb eine Selbsthilfegruppe. Mehr als 60 Menschen kamen zum ersten Treffen im März 2013 ins Restaurant der Kisssalis-Therme. "Viele dachten, man nimmt einfach ab, indem man hier sitzt und zuguckt", erinnert sie sich an die Anfänge. Allerdings sei von Anfang an das Ziel gewesen, dass sich die Mitglieder der Gruppe aktiv mit ihrem Gewicht auseinandersetzen.
"Am Ende ist es immer ein falsches Verhältnis von rein und raus", fasst Ursula Nickel ihre Erkenntnis nach Jahrzehnten des Ausprobierens zusammen. Viel hat die 57-Jährige bereits probiert: Sogar ein Magenband ließ sie sich einsetzen. Weil es eine Entzündung gab, musste das Band in einer zweiten Operation wieder entfernt werden. Solche und andere Erfahrungen tauschen die Mitglieder der Selbsthilfegruppe aus. "Wir können hier über alles reden", berichtet Ursula Nickel, und: "Am Ende muss jeder sein eigenes System finden."
Das klappe in der Gruppe deutlich besser: "Ich habe hier 15 Kilogramm abgenommen", fasst Irmgard Van de Weyer ihre zweieinhalb Jahre in der Selbsthilfegruppe zusammen. Und Ursula Nickel ist sich sicher: "Ohne die Treffen hier hätte ich 20 bis 30 Kilogramm mehr."
Ähnlich sind die Erfahrungen der beiden Frauen mit Medizinern: "Ärzte sagen einem zwar, dass man abnehmen soll, aber sie begleiten einen nicht", berichtet Nickel, oft würden Adipositas-Patienten abwertend behandelt, dabei sei die Psyche doch so wichtig. "Man muss eben selbst an den Punkt kommen, dass man selbst was machen muss."
Neuen fachlichen Input erhofft sich die Selbsthilfegruppe durch den Umzug in die Saale-Klinik: Das nächste Treffen am Mittwoch, 4. April, findet in der Reha-Klinik statt, die seit Jahren auf Adipositas spezialisiert ist. "Das passt sehr gut zu uns", sagt Chefarzt Dr. Klaus Herrmann. 190 Betten hat die Saale-Klinik der Deutschen Rentenversicherung Bund, im vergangenen Jahr hatten 74 Prozent der Patienten krankhaftes Übergewicht. Wobei Herrmann Probleme mit einer zu starren Definition hat: "Ein BMI über 30 allein sagt noch wenig aus." Untersucht würden auch Bauchumfang oder das Verhältnis von Taillen- und Hüft-Umfang. Und selbst wenn der zu hoch sei: "Es gibt zum Glück auch viele glückliche Adipöse."
Die Saale-Klinik ist laut Herrmann bereits seit 30 Jahren Schwerpunkt-Klinik für Diabetes. "Deshalb hatten wir schon immer schwerst adipöse Patienten", berichtet Herrmann. 2009 seien dann spezielle Vorkehrungen für Patienten mit mehr als 140 Kilogramm getroffen worden: vom stabileren Stuhl im Eingangsbereich über verstärkte Sportgeräte, Waagen und Betten bis zur stabileren Toilette. "Vier Zimmer sind auf Patienten bis zu 300 Kilogramm ausgelegt", berichtet der Chefarzt. "Aber wir haben auch immer wieder Patienten, die noch schwerer seien."
Oft gebe es mehrere Indikationen: "Die Krankenkassen sind sehr zögerlich, Adipositas als eigenständige Krankheit anzuerkennen", berichtet Herrmann. Oft kämen die Patienten wegen Rücken- und Gelenk-Problemen, Bein-Fehlstellungen oder psychischen Erkrankungen - manchmal schon Unter-20-Jährige mit mehr als 180 Kilogramm.
"Bei uns ist Adipositas in der Regel nur die Zweit-Diagnose", sagt Kai Fraass von den Heiligenfeld-Kliniken. Die Entstehung etwa von Depressionen oder Angsterkrankungen seien aber oft eng mit der Problematik der Adipositas gekoppelt. Deshalb stehe bei der Behandlung neben gruppentherapeutischen Angeboten und Einzelgesprächen besonders die Körpertherapie im Zentrum. Das Ziel: Körperwahrnehmung und Körpergefühl zu sensibilisieren und zu stärken. Walking, Wassergymnastik und Entspannungsübungen würden mit Esstischbegleitung und Kursen in der Lehrküche ergänzt. Auch baulich hat sich Heiligenfeld in der Rosengarten-Klinik auf schwere Patienten eingestellt.