Genialität, die man hören kann
Autor: Thomas Ahnert
Bad Kissingen, Freitag, 28. Juni 2019
Man muss mit Superlativen sparsam umgehen, um sie durch inflationären Gebrauch nicht zu entwerten und um sich Luft nach oben zu bewahren. Aber hier?
Der Titel "Artist in residence" bedeutet zunächst einmal eigentlich nur so viel wie "Kommerzienrat" in Österreich oder benennt jemanden, der mindestens zwei Konzerte gibt. Aber Julia Lezhneva?! Man hatte ja schon viel über sie und einiges auch von ihr, wenn auch nur in den Medien, gehört; da konnte man gespannt sein auf ihren ersten Auftritt im Regentenbau.
Er war - und da sind wir jetzt wieder bei den Superlativen - eine echte Sensation. Die Sopranistin überrollte das Publikum ganz einfach mit ihrer unglaublichen Virtuosität und Präsenz. Natürlich drängte sich da ein Vergleich mit Cecilia Bartoli auf, auch wenn man da zwei Sängerinnen aus zwei verschiedenen Stimmfächern miteinander misst. Und dann darf man auch nicht übersehen, dass Julia Lezhneva nicht ganz unwichtige 24 Jahre jünger ist als ihr erklärtes großes Vorbild.
Aber wenn man sich erinnert, wie Cecilia Bartoli vor 24 Jahren gesungen hat, dann fällt auf, dass diese beiden Primadonnen des Canto fiorito sehr viele Gemeinsamkeiten haben: eine unglaubliche Beweglichkeit in der Stimme, mit der sie Dinge machen können, die ihre Kolleginnen nicht machen können, eine gnadenlose Genauigkeit in der Intonation und Artikulation, eine enorme Leichtigkeit, aber auch Intensität in der Behandlung von langen Tönen und der Gestaltung von Emotionen - und ein Vergnügen an den Schwierigkeiten.
Natürlich gibt es Unterschiede: Cecilia Bartoli ging und geht in ihrer Mimik und Gestik stärker mit ihrem Gesang mit als Julia Lezhneva, die etwas länger braucht, bis sie ins Tanzen gerät. Dafür hat sie eine stärkere Stimme, die den Dosierungsspielraum vergrößert. Offenbar spielt da die Herkunft eine Rolle: Die Luft auf der Insel Sachalin im russischen Polarmeer scheint die Stimme stärker zu fordern und zu fördern als die milden "zeffiretti" in Rom. Auf jeden Fall scheint die Barockmusik exklusiv nur für die Beiden geschrieben worden zu sein.
Julia Lezhneva hatte ein Programm zusammengestellt, mit dem sie ihre Stimme bestens zeigen konnte: mit Werken der drei Barockheroen Johann Sebastian Bach, Antonio Vivaldi und Georg Friedrich Händel - und damit auch drei Stilrichtungen. Bei Bachs "Laudamut te" aus der h-moll-Messe oder der Arie "Gott versorget alles Leben" aus der Kantate BWV 187 ging es um ein ruhiges, intensives Gestalten, wobei sich zeigte, dass ihr etwas dunklere Timbre als dass von Cecilia Bartoli bestens nicht nur zu dem Ensemble, sondern auch zu den musikalischen Inhalten passte. Auch bei Vivaldis "Domine Deus" betonte sie den wiegenden Charakter der Musik, die Innerlichkeit des Textes. Ein echter Kracher war natürlich Vivaldis Motette "In furore iustissimae irae", dessen Titel schon Krawall signalisiert. Da schleuderte sie Blitze in den Saal, da sang sich das Schluss-Alleluja so rasend, dass man nicht sicher sagen konnte, dass sie zwischendurch einmal geatmet hat. Hinterher war ja Zeit, da war Pause.
Händel stand im Vordergrund des zweiten Teils. Dass Arien wie "Un pensiero nemico di pace" oder "Brilla nell"alma" aus der Oper "Alessandro" großartig gesungen waren, überraschte zu diesem Zeitpunkt niemanden mehr. Aber bei "Alla sua gabbia d'oro" begeisterte sie als verschmitzte Gestalterin. Denn da erklärt ein Vogel, warum er freiwillig in den offenen Käfig zurückkehrt: weil ihn sein Herr dann besonders schätzt, und das kann man ausnützen.
Es war natürlich nicht Julia Lezhnevas Erfolg allein; sie hatte Partner, die ihr Niveau tragen konnten. Da war das elfköpfige Ensemble "La voce strumentale", das sich, was in Russland noch einen gewissen Seltenheitswert hat, auf die Alte Musik spezialisiert hat und auf historischem Instrumentarium oder Kopien spielt. Es fremdelte zu Beginn noch kurz mit der Situation - aus welchen Gründen auch immer; aber eben nur kurz. Dann spielte es eine wunderbar artikulierte Barockmusik mit einem trockenen, aber höchst substanzreichen Klang in wechselnden Besetzungen und mit viel Freude an der virtuosen Herausforderung. Julia Lezhneva schaffte es nicht, die elf Musiker an ihre Grenzen zu treiben - umgekehrt allerdings auch nicht.