Kleines Stück Normalität für junge Flüchtlinge
Autor: Ralf Ruppert
Bad Kissingen, Montag, 12. Oktober 2015
Vera Kaufmann, Selamauit Berhane und Birgit Bittl kümmern sich in der Maxstraße aktuell um vier unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Zwei weitere kommen bald dazu.
Mathe-Hausaufgabe. Heute ist der Zehnerübergang dran. "Wie subtrahiert man heutzutage eigentlich schriftlich?", fragt Birgit Bittl ihre Kollegin Vera Kaufmann, während sie mit einem der vier minderjährigen Flüchtlinge der Wohngruppe in der Maxstraße rechnet. Das sind die kleinen Probleme, mit denen die Sozialpädagoginnen und die Psychologin Selamauit Berhane täglich zu tun haben.
Viele kleine Schritte auf dem Weg zum großen Ziel: Praktische Integrationsarbeit in der Jugendhilfe eben.
Wie geht es den jungen Flüchtlingen hier? "Gut" kommt als kurze Antwort. Drei von ihnen sitzen gerade am Tisch und büffeln für die Schule. Sie versuchen zu lachen, freundlich zu sein zum unbekannten Gast. Aber die Konzentration ist am Ende, jede Menge Rechenaufgaben stehen schon auf dem Schmierzettel, der Tag war lang, alle drei haben eine harte Woche in der Berufsschule hinter sich.
"Wir stehen um 6.30 Uhr auf", berichtet einer der Jugendlichen. Frühstück machen sie sich selbst, eigenverantwortlich und pünktlich fahren sie mit dem Bus zur Schule. Der 17-Jährige kam vor fünf Monaten aus Albanien nach Deutschland, seit einem Monat wohnt er in Bad Kissingen. Er spricht am besten Deutsch, auf ihre Muttersprache wollen aber alle am Tisch verzichten. Deutsch zu lernen ist nicht nur eine Pflicht, alle wollen es möglichst schnell gut sprechen. Es ist ihre Tür zu einem besseren Leben.
Der 17-jährige Albaner kann sich gut verständigen, ist auf Anhieb eine Klasse vorgerückt. Deshalb hat er drei Tage Schule und zwei Tage Praktikum in der Woche. "Ich habe schon in Albanien ein Jahr Elektriker gelernt", berichtet er. Nach dem Schuljahr würde er gerne eine Ausbildung in seinem Praktikumsbetrieb machen.
Winter auf dem Volkersberg
Die beiden anderen am Tisch kommen aus Eritrea. Einer ist 17, der andere seit kurzem 18. Sie haben nicht nur eine lange Flucht, sondern auch schon mehrere Stationen in Deutschland hinter sich: Den Winter verbrachten sie auf dem Volkers berg, dann ging's nach Würzburg, vor drei Monaten schließlich in die
Maxstraße. "Die Betreuung ist gut", sagt der Ältere ohne aufzuschauen. Auch sein jüngerer Mitbewohner meidet den Blick-Kontakt. Genug für heute, zu den Aufgaben der Betreuerinnen gehört auch, die Bewohner zu schützen."Die Jugendlichen hier sind empfindlicher als in der gewöhnlichen Jugendhilfe, und die Kommunikation ist schwieriger", berichtet Selamauit Berhane, die pädagogische Leiterin der Wohngruppe. "Dafür sind die Jugendlichen vom Lebenspraktischen her viel eigenständiger, sie können putzen, zumindest irgendwas kochen und auf ihr Geld achten."
Selbst Wurzeln in Eritrea
Was die minderjährigen Flüchtlinge alles durchgemacht hat, kann auch die Psychologin nur erahnen. Gespräche über die Flucht und ihre Ursachen sind schwierig.
Dabei hat Selamauit Berhane einen besonders guten Draht zu Flüchtlingen aus Eritrea: Die 28-Jährige ist zwar in Deutschland geboren, aber ihre Eltern stammen aus Eritrea. Neben Deutsch, Englisch und Spanisch spricht sie Tigrinya, eine der wichtigsten Sprachen in Eritrea. "Ich kann einfach auch mal mithören."In der Gruppe werden bewusst Jugendliche aus verschiedenen Kulturkreisen gemischt. Dadurch wird mehr Deutsch gesprochen. So unterschiedlich wie die Herkunft sind auch die Hintergründe der Flucht von Minderjährigen: "Eritreer zum Beispiel hauen oft von daheim ab, während afghanische Jugendliche eher weggeschickt werden, weil es zu gefährlich wird." Somalische Jugendliche würden oft vor Zwangsrekrutierung flüchten, und syrische Familien würden meist auf der Flucht getrennt. Rund ein Drittel aller aufgegriffenen Minderjährigen sei schnell wieder abgängig, um Angehörige zu suchen. Nur die Hälfte bleibe in Jugendhilfeeinrichtungen, das verbleibende Sechstel wird während des Clearing-Verfahrens als volljährig eingestuft.
Ende Juni zog die Wohngruppe der evangelischen Jugendhilfe in das Gebäude der Stadt ein. Hier wohnen vier von aktuell 62 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Kreis. "Ich finde das eine gute Lösung, es stellt ein Stück Normalität her", sagt Selamauit Berhane. Betreut wird die Wohngruppe teilstationär. "Wir sind nicht rund um die Uhr hier, aber tagsüber ist jeden Tag jemand vor Ort."