Kissinger Sommer: Es wird ernst um das Kunstlied
Autor: Thomas Ahnert
Bad Kissingen, Mittwoch, 06. Juli 2022
Bei der Liederwerkstatt wurde einmal mehr deutlich, dass es immer schwerer wird, die Sinnzusammenhänge zwischen Text und Musik zu begreifen. Auch der Humor scheint abhanden gekommen zu sein.
Es ist ja noch mal gut gegangen. Aber die Kissinger LiederWerkstatt stand dieses Jahr ziemlich auf der Kippe. Erst musste von den vier Gesangssolisten die Mezzosopranistin Esther Valentin-Fieguth coronabedingt absagen. Für sie fand Intendant Alexander Steinbeis relativ schnell Ersatz: Die Sopranistin Sarah Maria Sun und die Mezzosopranistin Christina Daletzka hatten Zeit und konnten die verwaisten Lieder übernehmen.
Aber dann sagte drei Tage vor dem ersten Konzert auch noch der Bariton Mikhail Timoschenko ab. Auch er war positiv getestet worden. Da musste dann schon das Glück mitspielen. Schließlich erklärte sich Dietrich Henschel - das Glück hatte also mitgespielt - bereit, seinen Urlaub in der Toskana zu unterbrechen und nach Bad Kissingen zu kommen. Aber die Anreise geriet zu einer dreitägigen Odyssee quer durch Europa. So hatte er nur noch den Vormittag vor dem zweiten Konzert Zeit, alles einzustudieren. Aber er ist halt ein Profi. Nicht überraschend, dass das erste Konzert auf eine Stunde ohne Pause gekürzt werden musste. Aber der positive Aspekt war: Die sechs Uraufführungen konnten gerettet werden.
Axel Bauni hatte bei den Einladungen der Komponisten wieder gemischt: drei der "Haus- und Hofkomponisten", nämlich Wolfgang Rihm, Manfred Trojahn und Steffen Schleiermacher. Aber es tauchten auch drei neue Namen auf dem Programm auf: Charlotte Bray, Johannes Maria Staud und Márton Illés. Auch in diesem Jahr war kein Dichter für die Vertonung vorgegeben - die Komponisten konnten nach ihrem Gusto ihre eigene Wahl treffen. Die Interpreten waren schließlich Sarah Aristidou und Sarah Maria Sun (Sopran) Christina Daletzka (Mezzosopran), Julian Freibott (Tenor) und Dietrich Henschel (Bariton) sowie die drei Pianisten Axel Bauni, Steffen Schleiermacher und Jan Philip Schulze.
Wollte man ein Fazit ziehen, müsste es heißen, dass es um das Kunstlied immer ernster wird. Gut, die Zeiten sind nicht gut, aber die Komponisten haben schon weit vor Corona den Weg in die Innerlichkeit und Innenschau angetreten. Ein Phänomen, das auch der Musik ganz guttut und möglich ist, war nicht mehr zu entdecken: der Humor.
Früher war es etwa ein Wilhelm Killmayer, der dafür garantierte, dass man über Lieder schmunzeln oder auch lachen konnte, in den letzten Jahren zeigte auch Steffen Schleiermacher noch, dass die Kunst heiter sein kann. Aber dieses Jahr gab es nur noch Ernstes, wenn auch nicht ausschließlich Nabelschau. Charlotte Bray etwa richtete ihren Blick auf die Ukraine. Natürlich liegt diese Entwicklung auch an den Dichtern, die sich der unfreundlichen Wirklichkeit auch nicht immer entziehen können.
Ein anderer Trend, der anzuhalten scheint, ist die Zerschlagung oder zumindest Aufdröselung der Musik in Silben. Gut, die Zeiten sind vorbei, in denen sich die Komponisten Melodien nicht verweigerten. Natürlich müssen die Lieder nicht wie Schubert oder Mahler klingen. Natürlich kann man sie nicht mehr nachpfeifen oder gar nachsingen - was bis ins 20. Jahrhundert durchaus ein Ideal war, nicht zuletzt aus wirtschaftlicher Sicht der Komponisten. Aber es wird zunehmend schwerer, die Sinnzusammenhänge zwischen Text und Musik zu begreifen. Und es wird schwerer, die Musik als fortlaufendes Produkt zu erfahren, weil jeder neue Ton eine nicht abschätzbare Überraschung ist - was sich in der Uraufführungssituation noch weniger vermeiden lässt. Mal sehen, wie das weitergeht.
Wolfgang Rihm eröffnete die Reihe der Uraufführungen mit "Überwundene Zeit - Einige Lieder von Uwe Grüning", gesungen und gespielt von Julian Freibott (Tenor) und Axel Bauni (Klavier). Wer Rihms Schaffen über die Jahre verfolgen konnte, bekam schnell den Eindruck, dass es sein privatestes Werk war - immer noch sprunghaft in Stimme und Klavier, aber sehr ruhig, suchend, mitunter in fahle Deklamation übergehend - was wohl Wolfgang Rihms gesundheitlicher Situation geschuldet ist. Der letzte, langsam gesungene Satz wirkt wie Bestätigung: "Du erschaust erst dein Glück, wenn es dich scheidend verlässt."