Druckartikel: Kinderarmut wird gerne totgeschwiegen

Kinderarmut wird gerne totgeschwiegen


Autor: Thomas Ahnert

Bad Kissingen, Mittwoch, 07. Mai 2014

Zu einem Gespräch über Kinderarmut hatten Kreisjugendring, DGB und Saale-Zeitung ins JuKuZ eingeladen. Die Teilnehmer waren sich einig, dass Hilfen dringend nötig sind. Aber zur Verbesserung der Situation ist die Politik gefordert.
"Armutsfachleute" auf dem Podium (v. l.): Siegbert Goll (Sozialamt), Marina Schachenmayer-Wiesend (Tafel), Ursula Hartmann (Caritas-Flüchtlingsberatung), Moderator Ralf Ruppert (Saale-Zeitung), Björn Wortmann (DGB) und Rudolf Fella (Job-Center). Fotos: Ronald Rinklef


"Hilfebedürftigkeit ist meist nicht Ursache ungleicher Lebenschancen, sondern oftmals Folge", war auf der Leinwand im Saal des Jugend- und Kulturzentrums zu lesen. Aber genauso richtig ist auch das Gegenteil: "Armut ist erblich."

In diesem Spannungsfeld bewegte sich die Podiumsdiskussion, zu der Kreisjugendrichg, DGB und Saale-Zeitung eingeladen hatten. Auf dem Podium saßen keine Politiker, sondern "Armutsfachleute": Siegbert Goll, Chef des Sozialamts, Marina Schachenmayer-Wiesend von der Kissinger Tafel, Ursula Hartmann, Flüchtlingsberaterin bei der Caritas, Björn Wortmann, bis vor wenigen Tagen DGB-Sekretär, und Rudolf Fella, Leiter des Jobcenters Bad Kissingen. Die Moderation hatte Ralf Ruppert (Saale-Zeitung).


Definitionen und Fakten

Drei Impulsreferate stimmten ein auf das Thema, klärten Definitionen, nannten Fakten. Björn Wortmann ging auf die Abhängigkeit von Einkommen, Bildungschancen und Verarmungsrisiko ein. Rudolf Fella beschrieb die oft erfolglosen Versuche von Jugendlichen aus armen Familien, im Berufsleben Fuß zu fassen. 2127 Personen im Landkreis leben derzeit in Bedarfsgemeinschaften; 771 Kinder unter 15 Jahren werden über Hartz IV unterhalten. Marina Schachen mayer-Wiesend wies darauf hin, das 25 Prozent der bedürftigen Abholer Kinder sind, dass die "Versteckten Engel " der Tafel im letzten Jahr 94 Kinder unter 16 Jahren unterstützten. "Armut verhindert ein anregendes Umfeld", meinte sie, und zwar schon deshalb, weil Armutskinder erheblich weniger Wörter hören: "Die Eltern können ihnen keine Perspektive bieten.'"


Der Spagat wird schmerzhafter

Was kann man tun, um die Armut erfolgreich zu bekämpfen? Das Problem ist halt, und das wurde zwischen den Zeilen in allen Beträgen der Fachleute deutlich, dass die Grenze zwischen dem Bekämpfen von Symptomen und dem Beseitigen der Ursachen zwar fließen, aber in der Praxis nur sehr schwer zu überwinden ist. Und bei allen wurde deutlich, dass sie zu viel Kraft - und Zeit - in die Symptome investieren müssen, um wirklich mit der Beseitigung beginnen zu können. Und eine gewisse Resignation schwang bei allen mit. Denn Armutsbekämpfung an der Basis ist äußerst wichtig, aber sie kann nur funktionieren, wenn sie auch politisch gewollt wird, wenn gesetzliche Regelungen sie begründen, auslösen und tragen.

Natürlich kam aus den Reihen der Zuhörer der Vorschlag, der dann immer kommt: die Forderung nach einer Neu- oder Umverteilung des Vermögens. Es könne nicht sein, dass zehn Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des Vermögens in Deutschland besitzen. Das ist aus einem gewissen Gerechtigkeitsverständnis heraus durchaus richtig. Man bräuchte ja gar nicht die ganzen 60 Prozent, um armen Menschen ein einigermaßen erträgliches Leben zu ermöglichen. Die Reichen könnten dann immer noch reich sein. Aber Politik, das wissen nicht nur die deutschen Hoteliers, hat immer auch etwas mit Klientelbedienung und Wählerstimmen zu tun , und da spielen die Armen in dem Kalkül keine Rolle. Politisch haben die meisten von ihnen, wie Björn Wortmann erläuterte, ohnehin resigniert.


Unaufhaltsamer sozialer Abstieg

Wie schwierig ein Entkommen aus der Armutsspirale ist, zeigten einige Beiträge aus dem Publikum, weil immer wieder der fehlende politische Wille am ende stand: etwa das Beispiel des Facharbeiters mit Frau und zwei Kindern, der von seinem Lohn in den 70er Jahren noch gut leben und sich sogar ein kleines Auto und einen preiswerten Urlaub leisten konnte - und das heute eben nicht mehr kann. Oder die allein erziehende Mutter mit einem 450-Euro-Job, die gerne mehr arbeiten würde und könnte, aber keine Möglichkeit geboten bekommt. Ralf Ruppert: ""Heute sind in Deutschland 2,8 Millionen Kinder, also jedes fünfte, vonArmuit betroffen. 1975 war es jedes 75."


Arbeit schützt nicht vor Armut

Apropos allein erziehende Mütter: Das machte Ursula Hartmann deutlich, die in der Sozialberatung der Caritas , speziell der Flüchtlingsberatung, jeden Tag mit der Armut zu tun hat: "Auch Menschen mit Beschäfigung geraten in Armut." Die Problemgruppe der Alleinerziehenden wird bei der Caritas immer größer, ebenso der Menschen, die sich Medikamente oder Brillen nicht mehr leisten können oder denen der Strom abgestellt wird. "Manchmal übernehmen wir bei einer Zwangsräumung eine Kaution." Prinzip dabei sei, "dass wir in jedem Fall prüfen, wie viel Geld wieder zurückkommen kann."

Eine wichtige Ursache für die zunehmende Verarmung nannten Rudolf Fella und Siegbert Goll: das rapide Ansteigen von prekären Beschäftigungsverhältnissen und von befristeten Arbeitsverträgen, die eine Lebensplanung überhaupt nicht mehr ermöglichen - für Björn Wortmann einmal mehr ein Grund für ein Plädoyer für "anständige Tariflöhne".

Dass Armut sich nicht nur in fehlendem Geld ausdrückt, erklärte Siegbert Goll. Er hat es in seiner Behörde ohnehin weniger mit Geld zu tun - im Gegensatz zum Jobcenter: "Es gibt nicht nur finanzielle Armut, es gibt auch eine soziale Armut, die einen Ausschluss aus der gesellschaftlichen Teilhabe bedeutet - ein Phänomen, das die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder stark beeinträchtigt. Deshalb sieht er für sich auch eine möglichst umfassende Betreuung der Kinder bis hinein ins Erwerbsleben, das Öffnen möglichst vieler Türen auch als seine vordringliche Aufgabe. Man dürfe bei einer Diskussion über Kinderarmut nicht die Eltern vergessen, die meistens genauso hilfebedürftig sind und Unterstützung brauchen. Alle Teilnehmer waren sich einig, dass in vielen Familien das psychische Gleichgewicht aus dem Lot geraten ist, dass sic das zunehmend in frühkindlichen Depressionen niederschlägt. "Der schlimmste Fall", so Goll, "wäre, wenn Kinder aus einer Stresssituation und Überforderung der Eltern misshandelt werden. Deshalb müssten nicht nur die Kinder, sondern die Familien unterstützt werden.

"Wir können uns keine Kinderarmut leisten", betonte Ursula Hartmann. "Es isteine Schande für die Gesellschaft, dass sie keine finanziellen Grundlagen für Familienleben schaffen kann. Das muss die Politik regeln."