Druckartikel: Kein Raum für den Zeitgeist

Kein Raum für den Zeitgeist


Autor: Thomas Ahnert

Bad Kissingen, Freitag, 20. Juni 2014

Vladimir Jurowski spielte mit den Wiener Symphonikern Beethovens Eroica in der Bearbeitung von Gustav Mahler. Aber die Begründung für die Aufführung blieb er letztlich schuldig.
Leonidas Kavakos und Vladimir Jurowski im Großen Saal. Foto: Ahnert


Bad Kissingen — Es hätte ein wirklich interessantes Konzert werden können mit Beethovens Coriolan-Ouvertüre, mit einem Konzert, das noch nie im Großen Saal aufgeführt wurde: Karol Szymanowskis 2. Violinkonzert, und mit Beethovens Eroica in der Bearbeitung von Gustav Mahler - auch das ein Werk, das nur selten auf den Spielplänen steht.

Aber dass das Konzert mit den Wiener Symphonikern doch durchhing, lag nicht am Orchester, sondern am Dirigenten: Vladimir Jurowski war mit einem dicken Vorschusslorbeerkranz in den Großen Saal gekommen. Aber er konnte bei weitem nicht alles einlösen, was man sich von ihm versprochen hatte.

Mahlers Veränderungen

Mahlers Eroica-Bearbeitung ist ja ein interessantes Stück Musik, weil sie mit Material vom Beginn des 19. Jahrhunderts den Zeitgeist und Geschmack am Ende des 19. Jahrhunderts spiegelt. Man merkt dass Wagner noch nicht allzu lange tot war, als der gerade neu bestallte Wiener Hofoperndirektor sich an die Arbeit machte. Mahler hat nicht viel, aber nicht ganz Unwesentliches verändert. Er folgte damals einer durchaus üblichen Mode, bereits vorhandene Werke zu modernisieren, sie den fortentwickelten Instrumenten und spieltechnischen Möglichkeiten anzupassen. Und so ist es vor allem die Klangbalance, die sich verändert hat, indem Mahler das Orchester fast ein bisschen gnadenlos aufpeppte. Er verwendete - abgesehen von einer Es-Klarinette, um stärkere Spitzen zu bekommen - keine Instrumente, die nicht auch Beethoven verwendet hatte. Aber der hatte für einen doppelten Bläsersatz plus drei Hörner, also insgesamt 13 Bläser komponiert. Bei Mahler ist der Bläsersatz genau verdoppelt - plus der zusätzlichen Klarinette auf 27. Davon waren allein sechs Hörner, die, abgesehen von den dadurch üppigen Jagdmotiven im Scherzo vor allem die Luxusaufgabe haben, die anderen Holzbläser motivisch zu begleiten. Und wenn man zehn Kontrabässe antreten lässt, dann muss man auch bei den höheren Streichern entsprechend aufrüsten. Ansonsten hat Mahler noch ein paar zusätzliche Stimmen hineingeschrieben, hat die Musik über weite Strecken ins damals moderne Monumentale gehoben und hat im ersten Satz ein bisschen gekürzt.

Die letzte Konsequenz fehlte

So weit so gut. Nur hat sich Vladimir Jurowski die letzte wichtige Frage offenbar nicht gestellt: Wie hat Mahler dieses für die eigenen Bedürfnisse hergerichtete Werk dirigiert? Eine Frage, deren Beantwortung eigentlich erst den Sinn der Aufführung begründet und die sich auch beantworten lässt, weil es gesicherte Überlieferungen gibt - wenn auch nicht auf CD. Mahler dirigierte - mit großer Kraftanstrengung sehr starke Tempo- und Dynamikveränderungen, was durchaus Sinn machte. Denn so konnte er einerseits das neue Pathos abbilden, aber trotzdem die Musik strukturieren und auch für den Zuhörer mit kleinen Entspannungen erträglich machen.

Beethoven hätte sich gefreut

So weit wollte oder konnte Jurowski nicht gehen. Es fehlten die gestaltenden Eingriffe, auch wenn er gestisch ständig auf Hochtouren lief. Aber was herauskam, war der schwach strukturierte Notentext, über den sich der 1805 bereits schwerhörige Beethoven vielleicht gefreut hätte. Aber ständiger Krach kann nerven und schnell langweilen. Dass man trotzdem viele der Mahler'schen Veränderungen hören konnte, lag am Darstellungswillen des Orchesters.
Nur einmal, zu Beginn des vierten Satzes, wurde mit den dramatisch verzögerten Pizzikati Jurowskis Wirken erkennbar. Aber dann verschleppte er das Tempo des Satzes, über den Beethoven eigentlich Allegro molto geschrieben hatte, bis zur Coda so sehr, dass einem das Orchester leidtun konnte. Eine verschenkte Gelegenheit, Musikgeschichte lebendig werden zu lassen.
Und was gab es vorher? Das 2. Violinkonzert von Karol Szymanowski spielten der Geiger Leonidas Kavakos und die Wiener Symphoniker wirklich fabelhaft. Aber es ist nicht eines seiner stärksten Werke. Es bedient die Melodieerwartungen sogar der Leute, die bei Musik des 20. Jahrhunderts gerne den Saal verlassen oder gar nicht erst kommen. Aber es passiert auch nicht viel in dieser Musik, weil Solist und Orchester weitgehend nebeneinander herlaufen, wenig miteinander zu tun haben und weil der Solopart den Interpreten - zumindest Kavakos - nicht den Schweiß auf die Stirn treibt. Trotzdem hätte Jurowski das Rondo ein bisschen musikantischer auslegen können. Die direktesten Anregungen dazu kamen vom Solisten. Der Geiger Pawel Kochanski, Freund und Violinberater Szymanowskis, hatte übrigens Recht: Hätte er nicht selbst eine längere Kadenz zwischen die beiden Teile des Konzerts komponiert, wäre es wirklich zu kurz.
Und ganz zu Beginn die Coriolan-Ouvertüre. Angesichts der rückwirkenden Betrachtung, dass für das Proben von Ouvertüren nie wirklich Zeit ist und dass die Wiener Symphoniker ihre Beachtung des Dirigenten auf das höfliche Mindestmaß zurückgefahren hatten, musste man zu der Überzeugung kommen, dass sie ihre "Wiener Hausfassung" spielten. So viel dramatische Spannung, so viel nervösen musikalischen Untergrund angesichts der unversöhnlichen Situation vor den Toren Roms wollte man im Nachhinein von Vladimir Jurowski als Ideengeber nicht mehr erwarten. Erstaunlich: Die bleibende Erinnerung an das Konzert dürfte für viele die Coriolan-Ouvertüre sein.