Kein guter Ort für Morgenmuffel
Autor: Thomas Ahnert
Bad Kissingen, Montag, 22. Juni 2015
Eine Klaviermatinee mit der Koreanerin Yeol Eum Son
Es war alles andere als leichte Kost, was die Koreanerin Yeol Eum Son, die unumstrittene Gewinnerin der KlavierOlympiade 2008, sich und ihrem Publikum am Samstagmorgen auf nüchternen Magen servierte. Ein Morgenmuffel durfte man nicht sein. Man hätte es nicht lange bleiben können. Denn aus den "Kreisleriana" machte Yeol Eum Son so etwas wie einen Weckruf.
Sie startete mit einem so starken Vorwärtsdrang, dass man sich Schumann an seinem Flügel höchst bildlich vorstellen konnte: am Beginn einer kreativen Episode, aber auch ein bisschen übellaunig angesichts der Aufgabe.
Yeol Eum Son nahm ihre Zuhörer mit hinter die Noten, gestaltete die acht Bilder so schlüssig und differenziert, spielte klanglich so differenziert und pointiert, dass sich die Phantasie auch des hartleibigsten Morgenmuffels über kurz oder lang in Bewegung setzte und die Klänge mit Leben erfüllte. Aber sie machte auch kompromisslos deutlich, dass Schumann nicht an allen Stellen etwas Weiterbringendes eingefallen ist.
Und dann kam "Le festin d'Esope" von Charles Valentin Alkan, eine Etüde mit 25 Variationen, mit einem Thema, das mit "Allegretto senza licenza quantunque", also ohne jedes Nachgeben, überschrieben ist. Alkan wusste, warum er das tat. In der Debatte um das schwierigste Klavierstück ist "Le festin" bisher noch nicht aufgetaucht, und zwar deshalb, weil es nur wenige kennen und noch weniger spielen können. Balakirevs "Islamej" oder Rachmaninoffs 3. Klavierkonzert, die im Ranking ganz weit vorne sind, gehören mittlerweile zum Standardrepertoire, aber um Alkans Hexenwerk machen alle einen großen Bogen, weil schon so viele daran verzweifelt sind.
Viel Freiraum für den Witz
Nicht aber Yeol Eum Son. Sie spielt nicht nur die größten technischen Gemeinheiten mit Bravour, sondern sie hat auch noch so viel Luft, dass sie gestalten kann. Sie kann es sich leisten, dieses Feuerwerk nicht ganz ernst zu nehmen, und holt den ganzen Witz, den Alkan in diese Musik gesteckt hat, die ganzen harmonischen und rhythmischen Überraschungen und Querschüsse heraus. Und es passierte etwas ganz Seltenes: Das angespannt-staunende Publikum musste öfters laut lachen.
Dagegen wirkte Igor Strawinskys "Drei Sätze aus Petrouchka" wie ein Kinderspiel. Allerdings wie ein sehr ungemütliches. Denn Yeol Eum Son gestaltete mit größter Expressivität die Auseinandersetzung zwischen dem armen Petrouchka, der sich in die Falsche verliebt, und dem Mohren, den die gekränkte Eifersucht treibt, ihn umzubringen. Da kontrastierte sie in starken Klangbildern den klagenden, immer schwächer werdenden Petrouchka und den immer mächtiger, brutaler werdenden Mohren. Politisch heutzutage vielleicht nicht ganz korrekt, aber höchst wirkungsvoll.
Maurice Ravels "La valse" machte Yeol Eum Son zum Spiel mit den Erwartungen der Zuhörer: Aus der nebulösen Tiefe des Klaviers schält sich in mehreren Versuchen ein Walzerthema heraus, das sich - ungemein geschmeidig gespielt - erst spät ganz entfalten darf. Aber das Glück ist nur von kurzer Dauer: Der Flug startet in die Katastrophe, in den Ersten Weltkrieg, der mit grotesker Wucht über das Publikum hereinbrach. Als keines Seelenpflaster gab's noch eines von Mendelssohns "Liedern ohne Worte".