Dr. Thomas Sitte erklärt, wie er Patienten am Ende des Lebens das Leiden nimmt, was Palliativpflege kosten darf und wer die Verantwortung für Sterbende hat.
Dr. Thomas Sitte gilt als Pionier. Er ist Vorstandsvorsitzender der noch jungen Deutschen Palliativstiftung und will die Versorgung in Deutschland vorantreiben. Über zehn Jahre hat er daran gearbeitet, bis das Netz der Palliativversorgung und der Hospizarbeit im Nachbarlandkreis Fulda enger wurde. Wie das auch in Bad Kissingen klappen kann, erzählt der Mediziner.
Welche Fürsorge brauchen Sterbende und Schwerstkranke über die pflegerische und medizinische Versorgung hinaus?
Thomas Sitte: Es gibt zwei Sachen, die die Lebenden und die Sterbenden brauchen. Das eine ist eine Garantie: "Ich bin immer für dich da." Das andere: "Ich kümmere mich um alles." Dieses "Ich" muss ein multiprofessionelles Team mindestens aus Arzt und Pflege sein. Für diese Versprechen brauche ich gar nicht unbedingt medizinisches Wissen.
Wer hat die Verantwortung für Sterbende und unheilbar Kranke?
Juristisch: Ärzte. Ich glaube, dass Angehörige häufig eine große Mitschuld daran haben, dass es ihren Liebsten schlecht geht. Viele Angehörige, gerade die, die weit weg sind, versuchen, möglichst viel zu machen - kennen aber nicht die ganze Vorgeschichte. Die, die am weitesten weg sind, machen den meisten Druck. Ich höre immer wieder - von gerichtlichen Betreuern oder Angehörigen - "das kann ich mit meinen Wertvorstellungen nicht vereinbaren". Also das, was der mutmaßliche Patientenwillen gewesen wäre. Sie wollen dann, dass anders behandelt wird. Dann sage ich: "Das brauchen Sie mit Ihren Wertvorstellung nicht zu vereinbaren. Sie müssen es nur umsetzen." Verantwortung ist immer auch eine Schuldfrage.
Welche Rolle spielen Ehrenamtliche und wo liegen deren Grenzen?
Ehrenamtliche sind die Grundlage der Versorgung. Sie können einfach da sein. Sie spenden Zeit, und Zeit ist das Allerwichtigste. Ehrenamtliche können die Angehörigen sehr gut entlasten und dem Patienten beistehen. Das ist viel wichtiger, als ihn medizinisch zu versorgen. Das wird vom Patienten mehr geschätzt. Sterben kann man auch ohne Arzt. Durch diese Unterstützung kann man dem Körper viel Kraft geben und Hormone so aktivieren, dass man körperliches Leid viel, viel weniger empfindet. Es ist Fakt, dass durch Zuwendung und Mutmachen Glückshormone frei werden, sodass man weniger Schmerzen, weniger Atemnot und weniger Angst hat. So kann man viel leichter sterben.
Was darf Palliativmedizin kosten?
So viel wie nötig. Ist mir völlig egal, was Palliativmedizin kostet, wenn es mir schlecht geht. Das Verrückte: In unserer Standardbehandlung werden um die 90 Prozent unserer Behandlungskosten im letzten Lebensjahr ausgegeben. Für Behandlungen, die dem Patienten ein langes Leben geben sollen. Wenn wir palliativ versorgen - nach dem Grundsatz "so wenig wie möglich" - wollen wir dem Patienten die Behandlung nicht vorenthalten. Wir wollen sie auch nicht abbrechen oder sie weglassen oder das Gerät ausschalten: Wir wollen dafür sorgen, dass es dem Patienten besser geht, und am Ende spart Palliativversorgung trotzdem sogar viel Geld.
Das neue Hospiz- und Palliativgesetz sieht vor, dass Krankenkassen bis zu 300 Millionen Euro mehr ausgeben. Die Palliativpflege zu Hause soll gestärkt werden. Ein Tropfen auf den heißen Stein oder ein erster Schritt?
Mit Geld können sie sofort gar nicht so viel machen. Sie brauchen die Menschen dafür. Ich glaube nicht, dass das ganze Geld im Moment wirklich sinnvoll ausgegeben werden kann, weil die Menschen fehlen, die es sinnvoll umsetzen können. Wir wollten, dass ein Artikel reinkommt, der festschreibt, dass für hospizlich-palliative Arbeit auch Werbung und Öffentlichkeitsarbeit nötig ist. Wenn diese Basis nicht da ist, kann ich das Geld nicht vernünftig ausgeben.
Könnten es die Kommunen dann schaffen, eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten?
Davon bin ich überzeugt. Das ist eine Frage der Imagearbeit. Ich mache seit 20 Jahren Aufbau von Palliativversorgung, mit vielen Werbekonzepten. In Fulda hatten wir nach zehn Jahren Vorarbeit mit Klinkenputzen das erste flächendeckende Netz in Deutschland. Plakate, Ausstellungen, Bürgerbüro... Das muss sich nicht ein ganzer Magistrat vornehmen, sondern ein Bürgermeister oder auch ein einfacher Bürger als Kümmerer auf die Fahnen schreiben und sich richtig reinknien. Dann kann es gehen.
Warum ist der Landkreis Bad Kissingen in Sachen Versorgung immer noch ein "Schweizer Käse"?
Hat´s einer versucht? Das Thema ist überreif. Geld und Unterstützung gibt es genug dafür mittlerweile. Es muss nur jemand anfangen. Und der muss es wirklich wollen.
Braucht eine moderne Palliativmedizin eine legale Form der Sterbehilfe?
Sie können den Patienten statt zu töten immer mit Medikamenten schlafen lassen. Er stirbt nicht durch das Schlafen. Er lebt genauso lange wie ohne zu schlafen. Das eignet sich auch gut, um Patienten zu entlasten. Dann wissen sie: Im Notfall kann ich schlafen, ich muss nicht leiden. Es ist ein Unterschied, ob ich töte oder bei der Selbsttötung helfe oder, ob ich das Sterben zulasse, ohne dass er das Sterben merkt und einfach in den Tod hineinschläft. Die Tötung aus Angst vor Leiden und die Tötung aus bestehenden Leiden kann ich immer verhindern, indem ich Patienten das Leiden nehme. Ich spreche mich fürs Schlafenlassen aus. Ich habe keinen einzigen Patienten töten müssen. Wenn wir die Sterbehilfe tatsächlich brauchen, brauchen wir die Tötung und nicht die Beihilfe zur Selbsttötung. Der Patient, der so schwach ist, dass er gar nicht mehr leben will, braucht die Hand eines anderen. Das wird in Deutschland hoffentlich so schnell nicht kommen.
Das Gespräch führte
Carmen Schmitt