"Ich hatte Gänsehaut"
Autor: red
Oerlenbach, Donnerstag, 13. November 2014
Von 1969 bis 1971 war Hubertus Bachmann Grenzjäger an der deutsch-deutschen Grenze in der Rhön. Er erinnert er sich an die Zeit beim Bundesgrenzschutz, Scharmützel mit DDR-Grenzern und den 9. November 1989.
Als Hubertus Bachmann die alten Fotos und Aufzeichnungen wieder hervorholt, kommen die Erinnerungen hoch. Seine Dienstzeit beim Bundesgrenzschutz (BGS) ist zwar mehr als 40 Jahre her. Aber die zwei Jahre als Grenzjäger an der innerdeutschen Grenze in der Rhön, stationiert in Oerlenbach, haben sich in Bachmanns Gedächtnis eingebrannt.
Heute ist Hubertus Bachmann 66 Jahre alt und pensionierter Rektor der Volksschule Dittelbrunn.
Im Wohnzimmer seines Hauses berichtet er von seinen Erlebnissen beim Bundesgrenzschutz. Und weiß gar nicht so genau, wo er anfangen soll. In zwei Jahren an der Grenze zur ehemaligen DDR sind dann doch einige Anekdoten zusammengekommen. "Die Kameradschaft damals war groß. Wir waren eine tolle Truppe", sagt Bachmann.
1969, nach dem Abitur, bewarb sich der 21-Jährige beim BGS. "Ich wollte auf eigenen Beinen stehen. 351 Mark waren damals viel Gehalt", sagt Bachmann. Und: Die Arbeit beim Bundesgrenzschutz ersparte ihm den Wehrdienst bei der Bundeswehr.
Der Nachteil: Bachmann stand mit dem Bundesgrenzschutz an der innerdeutschen Grenze ganz vorne. Die Grenzschutzabteilung Süd I in Oerlenbach war für 125 Kilometer Grenzzaun vom Dreiländereck bei Fladungen bis nach Coburg verantwortlich. Bundeswehr und US-Streitkräfte standen erst in zweiter Reihe hinter dem BGS. "Die durften ja gar nicht so nah ran", erinnert sich Bachmann. "In einem Verteidigungsfall wären wir als Erste überrannt worden."
Den nur mit leichten Waffen ausgestatteten West-Grenzern stand auf ostdeutscher Seite die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR gegenüber. Diese hatte im Jahr 1961 auch einen Großteil des Mauerbaus übernommen.
Keine eigenen Grenzanlagen
"Die BRD hatte ja selbst gar keine Grenzanlagen, um die wir uns hätten kümmern müssen", sagt er. Die von der DDR-Führung als "antifaschistischer Schutzwall" bezeichneten Maueranlagen befanden sich komplett auf der Ost-Seite. Neben mehreren Zäunen, einem verminten Todesstreifen und einer Fahrspur für Patrouillenfahrzeuge ragten alle paar hundert Meter die DDR-Grenztürme in den Himmel.
Wirklich zu Gesicht bekamen Bachmann und seine Kollegen die NVA-Leute fast nie. Auch deshalb, weil es in ihrem Abschnitt keinen Grenzübergang gab. Einmal allerdings trat ein DDR-Grenzer ganz nach vorne an die Demarkationslinie, um sich über eine Grenzverletzung zu beschweren.
Detonation und Hilferufe
In der Silvesternacht von 1969 auf 1970 hatte ein DDR-Bürger einen Fluchtversuch unternommen. "Meine Kollegen, die in der Nacht Dienst hatten, haben eine Detonation und Hilferufe gehört", erinnert sich Bachmann. Im Todesstreifen war der 17-jährige Zimmermann Bernd Geis auf eine Mine getreten und hatte einen Fuß verloren.
Mit letzter Kraft schleppte er sich an den Grenzzaun. "DDR-Wachleute waren keine zu sehen, die haben wahrscheinlich ins neue Jahr gefeiert", sagt Bachmann.
Seine BGS-Kollegen wagten sich hinter die Demarkationslinie vor, hoben den Grenzzaun mit einem Wagenheber an und zogen Geis in den Westen. "Ich selbst habe am nächsten Tag nur noch die Blutspuren im Schnee gesehen", sagt Bachmann. Die drei beteiligten Grenzschützer wurden befördert, vom damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher gab es schriftlich die Anerkennung für "menschlich und dienstlich vorbildliches Verhalten".
Die DDR-Truppen blieben nicht die Einzigen, mit denen es zu Reibereien kam. Neben vielen Tagesausflüglern aus dem Westen kamen einmal im Jahr auch Neonazis zu einer Kundgebung an die Grenze. "Das war immer am 17. Juni, dem ehemaligen Tag der Deutschen Einheit", sagt Bachmann.
NPD-Demonstranten ließen in Hör- und Sichtweite der ostdeutschen Grenzanlagen ihre Parolen los, darunter die Forderung nach der Wiedervereinigung des Landes und die verbotenen Strophen des Deutschlandliedes.
Bewusst in die Irre geführt
Nicht so im Sommer 1971: "Am 17. Juni hatte sich wieder eine Demo angekündigt. Wir waren in Alarmbereitschaft", erzählt Bachmann. Der BGS entschied sich dazu, einen Offizier in die Fahrzeugkolonne der NPD einzuschleusen. Dieser setzte sich an die Spitze des Zuges, hielt über Funk Kontakt - und führte die Rechtsextremen bewusst in die Irre und weg von der Grenze.
Wenige Monate später war für Hubertus Bachmann nach zwei Jahren beim Bundesgrenzschutz Schluss. "Es winkte natürlich eine vielversprechende Karriere mit Aufstiegschancen, und einige ehemalige Kollegen haben diesen Weg auch eingeschlagen", sagt Bachmann.
Entscheidung für den Lehrberuf
Er selbst entschied sich für ein Studium in Würzburg, wurde Lehrer und heiratete. Und 18 Jahre nach dem Dienstende in der Rhön, Bachmann war längst im Schuldienst, fiel die Mauer. Die Wende erlebte Bachmann zuhause in Maibach, wo nach der Grenzöffnung die Trabis die B 19 herunterrollten.
Hinter die Grenze, die er zwei Jahre lang beschützte, wollte Bachmann lange Zeit gar nicht. "Irgendetwas in mir hat sich dagegen gesträubt. Als wir dann mehr als zwei Jahre nach dem Mauerfall einmal rüber nach Meiningen gefahren sind, hatte ich Gänsehaut", erinnert er sich. Zu sehr war er an die deutsche Teilung gewöhnt, an die Grenze "da oben" in der Rhön.