Druckartikel: Meinung zur Energiekrise: "Leute werden verrückt gemacht"

Meinung zur Energiekrise: "Leute werden verrückt gemacht"


Autor: Ralf Ruppert

Hammelburg, Mittwoch, 07. Sept. 2022

Wenn der 86-jährige Josef Kirchner in seinem warmen Wohnzimmer Berichte über den bevorstehenden Winter sieht, schüttelt er nur mit dem Kopf: Viele wüssten Wohlstand und Bequemlichkeit nicht mehr zu schätzen.
Kalt seien die Winter in seiner Kindheit gewesen, erinnert sich Josef Kirchner.


Das ständige Gerede von der Energiekrise nervt Josef Kirchner: "Die Leute werden verrückt gemacht", sagt der 86-Jährige, und: "So ein Gejammer hat es früher nicht gegeben." In seinem neuen Haus heize er zwar mit Gas und die Preissteigerungen treffen auch ihn als Rentner, aber: "Der Wohlstand und die Bequemlichkeit heute sind mir das wert", sieht er die zusätzlichen Kosten gelassen. Aus seiner Kindheit kennt Josef Kirchner ganz andere Bedingungen: Im Elternhaus in der Kirchgrundsiedlung sei nur ein Raum beheizt worden, im Schlafzimmer von seinem Bruder und ihm seien die einfachen Glasscheiben im Winter regelmäßig zugefroren gewesen.

Besonders eindrucksvoll ist ihm die Suche nach Brennholz in Erinnerung geblieben: Für jede Familie gab es nur eine bestimmte Menge Brennholz über einen Bezugsschein. Geliefert wurden ein Meter lange Scheite. Dann sei der Säger bestellt worden, der mit seiner Bandsäge das Holz zerkleinerte, danach wurde es gespalten und aufgesetzt. Holz war zum Heizen und Kochen wichtig. Damit der Herd nicht kalt blieb, holte sich Josef Kirchners Mutter zusätzlich einen Kleinholz-Leseschein: Damit durfte alles gesammelt werden, was auf dem Waldboden lag.

"Völlig ausgeräumt"

"Der Wald war damals völlig ausgeräumt", erinnert sich Josef Kirchner. Jeder Stock wurde gesammelt, selbst das Laub wurde für die Kühe aufgeladen und nach Hause gefahren. Mit dem Handwagen seien die Mutter und die beiden Söhne bis auf den Berg hinters ehemalige Kalkwerk gefahren. "Da waren wir schon einen halben Tag unterwegs", fasst der 86-Jährige die Holzaktionen zusammen. Im Wald angekommen seien die beiden Brüder dann ausgeschwärmt und hätten den Wald durchforstet. "Vor uns waren natürlich schon andere unterwegs, viel gefunden haben wir nicht."

Irgendwann habe er beobachtet, dass seine Mutter sogar zu verbotenen Mitteln griff: "Sie hatte eine Handsäge dabei, versteckt in einem Kartoffelsack", erzählt Kirchner. Damit habe sie trotz des Verbots einige dicke Äste von Bäumen abgesägt und unter den gesammelten Holzstücken versteckt. "Wir sind mit unserem Handwagen nach Hause gefahren, als hätten wir Gold gefunden", erzählt der 86-Jährige. Groß war die Vorfreude auf die Wärme in der Küche, dem einzigen warmen Raum im Haus. "Die Stube wurde höchstens mal zu Weihnachten geheizt." In der Küche hätten sich deshalb auch alle immer aufgehalten, dort wurde Wurst gemacht, die Brüder erledigten ihre Schularbeiten, die Mutter kochte. Wenn er im Winter durchgefroren und nass vom vielen Schlittenfahren heim gekommen sei, seien die Schuhe und Kleider in der Ofenröhre getrocknet worden. "Uns haben die Finger und die Füße gebitzelt", erzählt er, und weiter: "Was wären wir früher froh gewesen, wenn wir so warme Kleider wie heute gehabt hätten." An einen gefütterten Anorak sei nicht zu denken gewesen, und die genagelten Sohlen der Schuhe seien immer erst erneuert worden, wenn sie schon ganz dünn waren. Schließlich ging auch das nur auf Bezugsschein. Deshalb sei er in seiner Kindheit den Sommer über und bis weit in den Herbst immer barfuß gelaufen. "Da haben oft die Füße geblutet, weil man sich die Zehen an den schlechten Straßen aufriss oder über Stoppelfelder sprang."

Heißes Wasser war selten

Heißes Wasser gab es im Haus in der Kirchgrundsiedlung, in das die Kirchners 1939 einzogen, zunächst nur aus dem Wasserschiff neben dem Herd. Erst nach dem Krieg sei ein Badeofen angeschafft worden, mit dem auch mal eine größere Menge Wasser erhitzt werden konnte - wenn genügend Holz da war. In seinem neuen Haus hat Josef Kirchner zwar auch einen Holzofen, aber: "Den habe ich seit Jahren nicht mehr geschürt." Zwar habe er sich für den bevorstehenden Winter Holz besorgt, aber ob er auch wirklich Feuer macht, weiß er noch nicht. Er habe auch keine Probleme damit, sich etwas wärmer anzuziehen und vor den Fernseher zu setzen. Entsprechende Ratschläge von Politikern, also wärmer anziehen oder auch mal den Waschlappen zu nehmen, findet er keineswegs anmaßend, sondern eigentlich ganz normal. "Darüber regen sich nur die auf, denen es zu gut geht", sagt Kirchner.

Landschaft ausgeräumt

Die Lebensweise damals habe auch die Landschaft geprägt: "Die Berge rund um Hammelburg waren alle unbewaldet", berichtet Kirchner. Auf alten Bildern sei auch in den Saaleauen kein Bewuchs zu erkennen: "Aus den Weiden wurden Körbe gemacht, jeder Grashalm wurde gemäht und jedes Stück Holz gesammelt", erzählt Kirchner, und: "Da konnte gar nichts hoch kommen." Die Grundstücke in der Kirchgrundsiedlung seien für die Selbstversorgung angelegt worden: Im Garten wurden Gänse, Hasen und Schweine gehalten. "Wir hatten alles zum Leben", schwärmt Josef Kirchner noch heute.