Gedenken an die Reichspogromnacht in Hammelburg
Autor: Arkadius Guzy
Hammelburg, Dienstag, 10. November 2015
Hammelburger erinnern an die Reichspogromnacht vor 77 Jahren. Nicht nur die Stadt, sondern auch manches Dorf war damals Schauplatz der Zerstörungswut gegen jüdisches Eigentum, wie ein Augenzeuge zu berichten weiß.
Als Neunjähriger erlebte Bruno Koberstein den 9. November 1938 in Völkersleier. Ein Jude aus der Nachbarschaft, Isidor Adler, arbeitete damals als Saisonhelfer und Pferdekutscher auf dem Hof seines Vaters. So bekam Koberstein ganz nahe mit, was während der Reichspogromnacht geschah. Seine Erinnerungen hat der heute 86-Jährige aufgeschrieben, um sie für die Nachwelt zu erhalten.
Völkersleier gehörte einst zu den Orten mit einer starken jüdischen Gemeinde. Nicht umsonst gab es dort eine Synagoge. Im 19. Jahrhundert gab es bis zu 110 jüdische Einwohner, wie Koberstein anhand alter Listen ermittelt hat. Vor der Machtergreifung durch Hitler hätten noch acht jüdische Familien im Dorf gelegt, am Tag der Reichspogromnacht seien es nur noch drei gewesen.
Koberstein berichtet, dass sein Vater am Nachmittag des 9. November 1938 während einer Einkaufsfahrt die Verwüstungen in Hammelburg mitbekam.
Daher wollte er, wieder zurück auf seinem Hof, Isidor Adler nach Hause schicken, damit dieser sich um seine Familie kümmere. Isidor Adler wollte aber erst noch die Pferde versorgen.
SA-Männer dringen ins Haus
"Noch während wir gemeinsam die Pferde ausschirrten und in den Stall brachten, kamen zwei SA-Männer in braunen Uniformen und verhafteten Isidor. Sie führten ihn ab", erzählt Koberstein. Er erinnert sich noch an den bulligen Fahrer des Kleinlastwagens der Nazis.Währenddessen ließen Männer "aus Hammelburg, Schwärzelbach, Waizenbach Dittlofsroda und auch aus Völkersleier" ihrer Zerstörungswut freien Lauf. "Als ich an das Haus von Isidor Adler kam, waren SA-Männer gerade dabei dort einzudringen. Mit Äxten schlugen sie an die Haustür und begehrten Einlass", hält Koberstein in seinem Bericht fest. "Man hörte wie mit Äxten auf Möbel eingeschlagen wurde, Betten wurden aufgeschlitzt, Federn stoben durch die Räume." Neben den Wohnungen der drei Familien verwüsteten die Schergen auch die Synagoge.
Else Adler, ihr Sohn und ihre Eltern flüchteten sich zum Haus der Kobersteins."Wir ließen sie eintreten und planten, die Geschädigten die Nacht bei uns verbringen zu lassen." Als sie dann zusammensaßen, "sprang mit einem lauten Knall die Haustüre auf, und schon stand ein kleiner, dicker SA-Mann in der Küchentür und schrie: ,Raus, raus, raus, ihr Judengesindel. Geht in eure Hütte.‘ Dieser Auftritt traf uns wie ein Schock. Der Familie Adler blieb keine Wahl, sie musste in ihr verwüstetes Haus zurück."
Isidor Adler und Samuel Bergmann, ein anderer Jude aus Völkersleier, seien später nach einem halben Jahr aus der KZ-Haft entlassen worden. Sie hätten schon vorher einen Ausreiseantrag gestellt. Koberstein weiß, dass beide nach England ausreisten, ihre Familien aber zurückblieben.
Die wurden laut Kobersteins Erinnerungen 1942 deportiert. Nach dem Krieg sei Isidor Adler nach Völkersleier zurückgekehrt, wo er bis zu seinem Tod lebte. "Die Suche nach seiner Familie gab er irgendwann auf. Sie blieb vergeblich", schreibt Koberstein.
Die Erinnerung an die Reichspogromnacht stützt sich immer mehr auf Menschen wie ihn, die die Geschehnisse als Kind erlebten.
Diese Entwicklung konstatierte auch der Hammelburger Bürgermeister Armin Warmuth (CSU) bei einer Gedenkveranstaltung auf dem Seelhausplatz: "Das Gedenken verändert sich mit den Jahren. Es gibt immer weniger Menschen, die die Reichspogromnacht als Erwachsene erlebt haben. Die Kinder- und Enkelgeneration rückt vor." Gleichzeitig betonte er die aktuelle Verantwortung, das Geschehen nicht zu vergessen. Warmuth erinnerte an das gewalttätige Wüten gegen die Juden und deren Leid. "Damals gingen nicht nur einige Glasscherben zu Bruch." Die Gedenkstunde zur Reichspogromnacht gestalteten in diesem Jahr die beiden Kirchen schwerpunktmäßig.
Prädikant Klaus Voshage trug eine Bibelstelle vor, die Pastoralreferent Markus Waite auslegte. Die Gruppe St. Johannes sang mehrere Lieder. Einige der rund 120 Teilnehmer der Gedenkfeier verlasen außerdem Namen und Lebensdaten jüdischer Bürger der Stadt.