Druckartikel: Erinnerungen an eine starke Frau aus Feuerthal

Erinnerungen an eine starke Frau aus Feuerthal


Autor: Ralf Ruppert

Feuerthal bei Bad Kissingen, Montag, 25. Januar 2021

Ingrid Beck hatte ein bewegtes Leben, das viel über die deutsche Geschichte erzählt. Ihren Tod am 4. Januar nahmen ihre sechs Kinder, 14 Enkel und zehn Urenkel zum Anlass, mehr über ihre familiären Wurzeln zusammenzutragen.
Ingrid Beck auf dem Hammelburger Marktplatz.


Auch wenn sie bereits 85 Jahre alt war, kam der Tod von Ingrid Beck am 4. Januar überraschend: "Eigentlich wollte ich noch Video-Aufnahmen machen, auf denen sie von früher erzählt", berichtet Enkel Philipp Prediger. Corona und anderes kamen dazwischen. Der 34-Jährige unterrichtet Deutsch und Geschichte am Gymnasium. Die Lebensgeschichte seiner Oma hat er bereits in den Unterricht eingebaut, stieg etwa am Beispiel eines Ahnenpasses aus der Familie in einer 9. Klasse in das Thema Nationalsozialismus und Juden-Verfolgung ein.

Philipp Predigers Großmutter wurde 1935 als Ingrid Christa Altmann in Leobschütz in Oberschlesien geboren. Sie war das siebte Kind der Eheleute Adolf und Maria Altmann. Der Ahnenpass der Familie Altmann reiche bis ins 17. Jahrhundert zurück, erzählt Hilmar Beck, der älteste Sohn von Ingrid Beck. Hilmar Becks Sohn Philipp weiß, dass solche Ahnenpässe dazu dienten, nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze vor allem jüdischen Mitbürgern das Leben zu erschweren: So konnten Deutsche nur das volle Bürgerrecht innehaben, wenn sie eine "deutsche" oder "artverwandte Abstammung" nachweisen konnten.

"Sie hat gerne von früher erzählt", erinnert sich Hilmar Beck. Während des Studiums fragte Enkelssohn Philipp auch oft die Großmutter: "Die Erinnerung war natürlich oft sehr selektiv", berichtet der Geschichtslehrer, trotzdem habe er daraus mehrfach Anregungen für den Unterricht mitgenommen.

Beerdigung im kleinen Rahmen

Im Vorfeld der Beerdigung, die coronabedingt im engsten Familienkreis stattfand, haben sich vor allem die sechs Kinder über die eigene Familiengeschichte ausgetauscht. Eine große Rolle spielte dabei die Flucht der Mutter: Weil die Rote Armee immer näher kam, verließ Maria Altmann mit drei ihrer Kinder und einem Enkel am 4. Februar 1945 nachts gegen 3.45 Uhr Leobschütz: Ingrid war neun, ihr Bruder Gerd 13, ihre 20-jährige Schwester Annemarie hatten ihren kleinen Sohn Reiner auf dem Arm. Vater Adolf Altmann blieb zurück, auch als am 17. Februar der letzte Zug abfuhr. Am 9. März schickte Ingrids Vater einen letzten Brief, der bis heute erhalten ist, danach verlieren sich seine Spuren.

Die Flucht dauerte mehr als ein halbes Jahr: Über Österreich kamen die Altmanns am 19. Oktober 1945 in Feuerthal an. "Flüchtlinge wurden damals nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen", erinnert sich Enkel Philipp Prediger auch an Geschichten seiner Oma, die von Ablehnung und Not erzählten. Trotzdem habe sie, als 2015 eine neue Flüchtlingswelle nach Deutschland schwappte, immer gesagt: "Wir müssen den Menschen doch helfen, wir waren damals auch über jede Hilfe froh."

"Sie erzählte sehr viel von Ihrem Vater, der Konzertmusiker war", berichten die Kinder. An die alte Heimat hatte sie viele Erinnerungen, die sie bei einer Reise nach Oberschlesien 2004 noch einmal auffrischte.

Groß war die Erleichterung, als nach dem Krieg nach und nach weitere Brüder in Feuerthal ankamen. Der siebenköpfigen Familie wurde eine Ein-Zimmer-Wohnung zugewiesen. Oft berichtete Ingrid Beck, dass sie die neusten Lieder aus dem Radio solange singen musste, bis ihre Brüder sie auf Instrumenten nachspielen konnten, weil das Geld für die Noten fehlte.

"Sie können Dir alles wegnehmen, nur nicht das, was du im Kopf und im Herzen trägst", pflegte Ingrids Mutter Maria Altmann immer zu sagen. Sie starb 1966.

Ingrid lernte in den 1950er Jahren Erich Beck kennen. Sie heirateten 1957 und zogen sechs Kinder groß. Zunächst lebten sie im Bauernhof der Familie Beck in der Ortsmitte. 1969 zogen sie in den selbst errichteten Neubau um.

Wichtige Stütze des Ortssprechers

"Das Leben war nicht einfach", erinnern sich die Kinder der Familie Beck. Neben der kleinen Landwirtschaft lief die Mutter täglich sechs Kilometer nach Hammelburg zur Arbeit. Die Kinder mussten mit anpacken, das Lebensziel der Eltern war, dass es ihren Kindern einmal besser gehen soll als ihnen selbst.

Ingrid Beck stand nicht in der Öffentlichkeit, hatte keine Ämter, aber sie hielt ihrem Mann den Rücken frei für ein großes ehrenamtliches Engagement: Als Kommandant der Feuerwehr trug Erich Beck maßgeblich und trotz vieler Widerstände dazu bei, dass Feuerthal ein Feuerwehrhaus bekam. Vor der Gebietsreform saß er im Gemeinderat der eigenständigen Gemeinde, nach der Eingemeindung vertrat er die Feuerthaler Belange im Stadtrat. Bis zu seinem frühen Tod 1994 war er Ortssprecher.

Zudem gründete er den Musikverein und das Weinfest mit, setzte sich für den verfallenen Dorfbackofen ein, war leidenschaftlicher Weinbauer und Jäger. "Leider geraten die Leistungen der Ehefrauen zu oft in den Hintergrund und werden nicht gewürdigt", sind sich die Kinder von Ingrid Beck einig.

Vor allem aber war Ingrid Beck Mittelpunkt einer großen Familie: Für die 14 Enkel und zehn Urenkel hatte die Oma immer ein offenes Ohr, selbst wen sie etwas ausgefressen hatten, habe sie sich immer schützend vor die Kinder gestellt. Weil sie bis ins hohe Alter selbst am Steuer saß, übernahm sie auch Fahrten zum Unterricht oder zum Training. Und auch die Lebenspartner der Enkel nahm sie mit offenen Armen auf.

Unvergesslich sind den Hinterbliebenen die geselligen Treffen nach der Traubenernte, die gemeinsamen Heiligabende mit Spielrunden bis weit nach Mitternacht und Tischtennisturnieren über den Küchentisch mit Büchern als Netz. Die Nachfahren von Ingrid Beck sind sich einig: "Ihr Leben war nicht einfach, trotzdem hat sie alles für ihre Familie getan und war immer froher Natur."