Druckartikel: Ein Leben im Zeitraffer

Ein Leben im Zeitraffer


Autor: Thomas Dill

Bad Brückenau, Mittwoch, 20. März 2013

Die Theatergruppe "kompass" des Franz- Miltenberger-Gymnasiums bringt eindrucksvoll Martin Heckmanns "Kommt ein Mann zur Welt" auf die Bühne. Hauptdarsteller Leopold Richter beeindruckte als Bruno.


Komödie, Tragikomödie, Comic Strip, Bilderbogen, Experimentaltheater, egal welche Bezeichnung man für das Theaterstück der jungen Schauspieler um Regisseur Dirk Hönerlage vom Gymnasium Bad Brückenau fand, sie traf heuer immer zu. "Experiment gelungen" lautet das Fazit nach drei Aufführungen auf der passend intimen Bühne des Lola-Montez-Saals im Kursaal.
Die diesjährige Aufführung war in vielerlei Hinsicht ein Experiment für die Theatergruppe der 10. bis 12. Klasse mit seinen 19 Schauspielern und sechs Technikern. Zunächst war die Hauptperson des Stücks, Bruno Stamm, wunderbar einfühlsam und facettenreich gespielt von Leopold Richter, in allen 26 Szenen durchgängig auf der Bühne präsent. Die über 50 Rollen des Stücks verteilten sich auf die übrigen Darsteller, so dass in rasantem Wechsel bis zu fünf Nebenrollen gefordert waren.
Auch die Inszenierung selbst war neu und ungewöhnlich. Ein Theaterstück ohne fallenden Vorhang, die wenigen Umbauten wurden im Halbdunkel vor Publikum bewältigt, eine Bühnenkulisse, die aus dem grauen Vorhang und einem großen Lebensbaum bestand. Die grauen Holzkisten waren einzige Requisiten und variable Symbole für jede Art von Gegenstand von der Wiege bis zum Totenbett. So konnte jeder Zuschauer sein eigenes Kopftheater ablaufen lassen und sein eigenes Bühnenbild hinein projizieren und somit seine eigene Lebenserfahrung.
Ein roter Faden in allen Stücken der Theatergruppe ist der aktuelle Zeitbezug des Stücks und der Spiegel, der dem Zuschauer permanent vorgehalten wird und ihn fast zwingt, nachdenklich nach Hause zu gehen. Auch dies ist diese Jahr wieder ganz unaufdringlich und umso nachhaltiger gelungen.

Kampf gegen innere Stimmen

Wie in einem Comic Strip, manche Szenen werden nur mit wenigen Sätzen angerissen, wird der Lebensweg eines innerlich zerrissenen Menschen im Zeitraffer erzählt. Innere Stimmen erzählen ihm dabei sein Leben in der Vergangenheitsform, als sei es vorherbestimmt. Bruno kämpft dagegen an für die seltenen Momente der Individualität und des Glücks. Aus einem wilden "Pointenpingpong" entwickelt sich Brunos Charakter durch zarte und berührende Momente bis zur Bittersüße seines Todes.
Ein Menschenleben wird in knapp zwei Stunden angerissen. Bruno wird geboren, sinniert über den Sinn, ein Ich zu sein, fällt vom Baum. Er bereist die Welt. Bruno will Tina küssen, Tina küsst lieber andere, Bruno wird Künstler. Er holzt Bäume ab, sieht das als Performance, kommt in den Knast. Dort schreibt er ein Lied, Brunos Lied, das wird ein Hit, Bruno ist ein Star, Tina strippt für ihn. Bruno stürzt ab, schreibt neue Lieder, die keiner mehr hören will. Sein Ruhm ist vorbei. Er heiratete Suse, die er im Flugzeug kennen gelernt hat. Dann folgt ein Bandscheibenvorfall, Bruno wird träge, Suse lässt sich scheiden, er kriegt Krebs, dann Alzheimer. Selbst auf dem Sterbebett ist er unsicher: "Ich hätte vielleicht ...", lautet sein letzter Halbsatz. So endet ein Leben in unserer schnellen Multioptionsgesellschaft.
Rasant wechseln die Szenen. Dabei begleiten ihn immer seine Stimmen und treiben ihn fast in den Wahnsinn. Die Stimmen stehen mit ihm zusammen auf der Bühne, die Vernunft, die Triebhaftigkeit, die Tradition und die so genannte Anima, das Weibliche im Mann. Dargestellt werden sie von Maximilian Seidl, Max Puschner, Emma Ferkinghoff und Lena Bögelein in fast schon angsteinflößender Art und Weise: Wer verspürt nicht in sich selbst des Öfteren diese Stimmen? Diese vier Ansichten begleiten die Hauptfigur, sie kommentieren sein Tun, kritisieren ihn, ermutigen und fördern ihn ohne Unterlass.

Rasant wechselnde Nebenrollen

Unterstützt wird die Darstellung der Lebensszenen durch den rasanten Auftritt der wechselnden Nebenrollen, allesamt treffend besetzt und mit Hingebung gespielt. Ironisch dabei, dass Robert Nelkenstock zunächst den Vater Brunos spielt, um später in anderer Rolle wie Bruno selbst als dessen Sohn zur Welt zu kommen.
Merkmal eines jeden Schauspielstücks unter Dirk Hönerlage sind die kleinen Veränderungen im Drehbuch als Interpretationshilfen. So ist das entscheidende Requisit Brunos ein Schal, ein Geschenk seiner Mutter. Am Schluss löst sich der Wollfaden (in gewisser Hinsicht: sein Lebensfaden) auf, mit der Entwicklung des Fadens hat sich Bruno quasi selbst abgewickelt.

Trotz Abitur viel geprobt

Viel Symbolkraft hat auch der scheinbar achtlos am Rand der Bühne platzierte Baum. Er wird zur Geburt Brunos voller Bilder seines zukünftigen Lebens gehängt. Wie in einem Kalender verblassen diese nach und nach, sie fallen durch Umdrehen symbolisch wie Blätter vom Baum. Mit dem letzten Bild/Blatt erlischt das Leben. Zum Schluss wurde die im Publikum viele Lacher produzierende Komödie unmerklich zum Drama, dem Lebensdrama Brunos - oder jeden Zuschauers - geworden, die Zuschauer wurden nachdenklich entlassen.
Trotzdem belohnten sie die sichtlich geschafften Akteure auf der Bühne an den drei sehr gut besuchten Abenden mit tobendem Applaus. Das monatelange Textlernen, das Hineinversetzten in mehrere Rollen, hatte sich gelohnt. "Manche Szenen konnte ich mich selbst spielen, vor allem in der Jugend und die Gesangszenen, das fiel mir relativ leicht", sagte Hauptdarsteller Leopold Richter, der trotz des bevorstehenden Abiturs den größten Textumfang zu bewältigen hatte. "Das hilft mir aber jetzt beim Abi, denn ich musste mich unheimlich selbst organisieren", zieht er positiven Nutzen aus der Schauspielerei.
"Wir sind alle total geschafft und platt, mit der Schlussprobe am Mittwochabend haben wir das Stück jetzt vier Mal hintereinander gespielt", sagte ein emotional erschöpfter, aber sichtbar glücklicher Dirk Hönerlage.
Die Fans der Theatergruppe "kompass" dürfen gespannt sein, was er mit seiner Truppe für nächstes Jahr aus dem Hut zaubern und auf die Bretter der Welt bringen wird, sicher wieder Theater der Spitzenklasse mit tagesaktuellem Bezug.



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Saale-Zeitung