Druckartikel: Die Zeichen der Zeit erkannt

Die Zeichen der Zeit erkannt


Autor: Ewald Kiesel

Haard, Dienstag, 19. April 2022

Bei der Gebietsreform vor 50 Jahren gab Haard nach 750 Jahren seine Selbstständigkeit auf und wurde Teil der Gemeinde Nüdlingen. Warum Haard nach zähem Ringen einwilligte und was es dem kleinen Ort einbrachte.
Die Sonderfördermittel, die der Staat vor 50 Jahren für die Vereinigung der beiden Gemeinden bezahlte, flossen komplett in den Ausbau der Haarder Straßen, sodass diese staubfrei wurden. Foto vom Kirchturm aus.


Im Jahre 1971/72 wurde in Bayern die Gemeindegebietsreform durchgeführt, die zu einschneidenden Veränderungen führte. Aus den bisherigen Landkreisen Bad Brückenau und Hammelburg ist der Großlandkreis Bad Kissigen entstanden. Viele kleinere Gemeinden wurden aufgelöst und bildeten größere Zusammenschlüsse oder Verwaltungsgemeinschaften. Nicht überall ging diese Reform unumstritten über die "Bühne". Sie sorgte zum Teil für Unmut der mit großzügigen Fördermitteln des Staates befriedet wurde.

So auch in der bis dahin selbstständigen Gemeinde Haard. Am 8. April 1971 trafen sich die Gemeinderäte von Nüdlingen und Haard auf Vorschlag des Landratsamtes, um über den Zusammenschluss von Haard und Nüdlingen zu beraten. Die beiden Gemeindegremien beschlossen einstimmig - nach ausgiebiger Diskussion - die Zusammenlegung der beiden Gemeinden zur Gemeinde Nüdlingen.

An der geheimen Abstimmung der Haarder Bürger, am 10. Oktober 1971 nahmen von 709 Einwohnern 300 wahlberechtigte Bürger teil. Davon stimmten 269 für den Zusammenschluss mit Nüdlingen und 31 dagegen. Aufgrund dieses Abstimmungsergebnisses wurde am 5. November 1971 zwischen der Gemeinde Nüdlingen und der Gemeinde Haard ein Eingliederungsvertrag unterzeichnet, der einhellige Zustimmung der beiden Gemeindegremien fand.

Damit wurde am 1. Januar 1972 die Gemeinde Haard als Gemeindeteil in die Gemeinde Nüdlingen rechtswirksam eingegliedert. Haard gab damals nach 750 Jahren seine Selbstständigkeit zu Gunsten der Nachbargemeinde Nüdlingen auf. Zwar wurden auch andere Möglichkeiten geprüft, doch die geografische Nähe, der gemeinsame Schulverband seit 1969 und die gemeinsame Zugehörigkeit zur Pfarrei Nüdlingen seit 1590 sprachen dafür, die Orte auch politisch zu vereinen.

Der Vertrag

Zu den wichtigsten Vertragsbedingungen gehörten: Die Sonderfördermittel des Staates in Gesamthöhe von 422 938 DM, sollen für den Ausbau der Ortsstraßen im Gemeindeteil Haard verwendet werden. Ein entsprechender Lageplan mit den gekennzeichneten Altortsstraßen wurde erstellt. Die Gemeinde Nüdlingen verpflichtete sich mit dem Ausbau der Haarder Ortsstraßen unverzüglich zu beginnen.

Eine gedeihliche Weiterentwicklung des Ortsteils Haard wurde nach besten Kräften versprochen. Der Name des Ortes "Haard" sollte erhalten, die Grundsteuersätze von A und B bestehen bleiben und die Satzungen angeglichen werden. Der Gemeindeteil Haard sollte bis zur Kommunalwahl am 30. Juni 1972 von 1. Bürgermeister Emil Röder, 2. Bürgermeister Anton Müller und Gemeinderat Alfred Hehn im Nüdlinger Gemeinderat beratend vertreten sein.

Weiter wurde vertraglich festgelegt: Sollte in Folge schulischer Veränderungen das neue Schulhaus frei werden, so sollen die Schulräume für Zwecke vorschulischer Erziehung (Kindergarten) verwendet werden. Die Turnhalle ist für die Leibesertüchtigung der Bürger und für kulturelle Veranstaltungen der Vereine des Ortsteils Haard zur Verfügung zu stellen. Die Jagdreviere sollen wie bisher Bestand haben.

Zur Übergabefeier am 18. Januar 1972 war am Sonntag Nachmittag im Saal der Gastwirtschaft Alberth kein Platz mehr zu bekommen, so zahlreich kamen die Bürger zur Eingliederungsfeier, erinnert sich Ewald Kiesel. Der Haarder Bürgermeister Emil Röder dankte seinen Gemeinderäten, Gemeindebediensteten, Vereinen und Bürgern für die gute Zusammenarbeit und wünschte eine gute Zukunft.

Im Mittelpunkt stand die Verabschiedung und Ehrung des bisherigen Bürgermeisters Emil Röder (*1907, † 1997), der die Geschicke der Gemeinde Haard seit 1952 leitete. In einem umfassenden Rückblick stellte Gemeinderat Alfred Hehn die unter Röders Führung erzielten Erfolge heraus. Er erinnerte an den Bau der zentralen Wasserversorgungsanlage mit Brunnen und Hochbehälter, die 1956 in Betrieb genommen wurde. Die Kanalisation mit Kläranlage, die Löschwasser-Zisterne, die Ausstattung der Feuerwehr, die Aufforstung des Gemeindewaldes, die Erneuerung des elektrischen Ortsnetzes mit Trafostation, den Ausbau der Ortsverbindungsstraße zwischen Nüdlingen-Haard, den Neubau der Schule mit Lehrerwohnhaus, die Hochwasserfreilegung durch den Ort und den Leichenhausbau. Seit seinem Amtsantritt vor 20 Jahren sei die Einwohnerzahl von 568 auf 709 Einwohner angewachsen. Röder habe stets ein reges Vereinsleben gefördert. All diese Leistung sei durch den unermüdlichen Einsatz des Bürgermeisters in 235 Gemeinderatssitzungen mit Gemeinderat und Bürgern erarbeitet worden. Mit dem 1. Januar 1972 habe Haard nun seine Selbstständigkeit aufgegeben, "nicht leichten Herzens", wie Emil Röder betonte. Man habe aber die Zeichen der Zeit erkannt. Nun bat er alle seine Bürger von Haard, am Aufbau der neuen Großgemeinde Nüdlingen mitzuarbeiten.

Einstimmig beschloss der Gemeinderat, Emil Röder für seine Verdienste um die Gemeinde Haard zum Ehrenbürger zu ernennen. 2. Bürgermeister Anton Müller überreichte die Urkunde. Nüdlingens Bürgermeister Franz Nicolai wies auf die historische Bedeutung dieses Zusammenschlusses der beiden Gemeindeteile hin und bat ebenfalls für alle Zukunft um gute Zusammenarbeit zum Wohle der Bürger beider Ortsteile. Die Gemeindegebietsreform solle die vorhandene Leistungskraft zusammen fassen, um die Gemeinden zu stärken.

Der damalige Landrat Magnus Herrmann stellte fest, dass die Gemeinde Nüdlingen einen neuen Gemeindeteil erhalte der eine gute "Mitgift" mitbringe. Gesang- und Musikverein, sowie die Schuljugend umrahmten die historische Feierstunde.

Die Dorfstraßen wurden zügig - wie vertraglicht festgelegt - ausgebaut und im Rahmen der Baumaßnahme bepflanzte Böschungen und Grünanlagen neu angelegt. Da die Straßen nun staubfrei waren erneuerten die Einwohner ihre Gartenzäune, brachten ihre Vorgärten auf Vordermann und renovierten ihre Häuser.

Bei der Teilnahme am Ortswettbeweb 1974 "Unser Dorf soll schöner werden - Unser Dorf hat Zukunft" wurde dem Ortsteil Haard, zur Freude der Einwohner der 1. Preis (Orte über 600 Einwohner) zuerkannt. Die Haarder Vereine, die auch nach der Eingemeindung ihr Eigenleben behielten, gründeten einen Vereinsring, legten einen neuen Festplatz in der Dorfwiese an und trugen mit ihren Veranstaltungen wesentlich zum Zusammenwachsen der Bürgerinnen und Bürger beider Gemeindeteile bei. Bei der Kommunalwahl am 11.Juni 1972 wurden Martin Ritter und Ewald Kiesel in den Nüdlinger Gemeinderat gewählt.