Druckartikel: Der kirchliche und weltliche Bach

Der kirchliche und weltliche Bach


Autor: Thomas Ahnert

Bad Kissingen, Freitag, 30. Juni 2017

Der Countertenor Andreas Scholl und die Blockflötistin Dorothee Oberlinger widmeten dem Thomaskantor ein ganzes Konzert .
Bei der ersten Zugabe erwartete das Publikum noch eine kleine Überraschung: Konzertmeister Dmitry Sinkovsi (Mitte, links) hatte seine Violine in der Garderobe gelassen und sang mit Andreas Scholl "Sound the Trumpet", ein feuriges Duo für zwei Countertenöre und Orchester von Henry Purcell. Schließlich ist er auch studierter Sänger.  Foto: Gerhild Ahnert


Ein ganzer Abend Bach? Nur Johann Sebastian? Würde das nicht irgendwann einmal langweilig ... nein, nicht langweilig, sondern routiniert werden? Wurde es nicht. Dazu wurde zu gut und entspannt musiziert und gesungen. Und dazu war das Programm auch zu abwechslungsreich, als dass es Gewöhnung gestattet hätte.
Dorothee Oberlinger, Deutschlands Chefblockflötistin, hatte mit ihrem Originalklang-"Ensemble 1700" eine Auswahl getroffen, die sie internationalisiert "Small Gifts of Heaven" nannte. Bei Bach hießen sie noch "Kleine Himmelsgaben" und meinten die Brandenburgischen Konzerte. Der Titel signalisierte schon eine gewisse Tendenz zur Kurzweil. Es waren Werke, die in einer Zeit entstanden, als Bach noch nicht für die Ewigkeit zu komponieren begonnen hatte - man denke nur an die Kunst der Fuge oder andere intellektuelle Schmankerl. Was im Großen Saal zur Aufführung kam, war Bach'sche Gebrauchsmusik aus dem kirchlichen und weltlichen Bereich: Ausschnitte aus Kantaten, aber auch eine ganze, Konzerte, eine Triosonate - die natürlich mit reduziertem Personal. Ständig waren wechselnde Besetzungen am Werk. Die jedes Mal einen neuen Gesamtklang produzierten und so die Spannung hoch hielten.


Tenor in Musizierlaune

Dazu kam, dass mit Andreas Scholl ein Countertenor zu der Truppe gestoßen war, der sich in einer fabelhaften Verfassung und Musizierlaune präsentierte. Um ihn war es in der letzten Zeit - im Vergleich zu früheren Jahren - erstaunlich ruhig geworden. An der Stimme konnte das nicht gelegen haben, denn die war, wenn man's recht bedenkt, flexibler als früher, wo man bei ihm manchmal den Eindruck eines statischen Singens hatte. Und er ging in der Steuerung des Timbres auch wohltuend genau auf die Klangfarben des Orchesters ein, sang instrumental, verschmolz mit ihm zur Einheit.
Im Zentrum seiner Auftritte stand die komplette Kantate "Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust" BWV 170, die Andreas Scholl als durchgehende Ereigniskette durch die drei Arien und zwei Rezitative gestaltete: als Geschichte vom aufrechten Christenmenschen, der es sich in der Welt gemütlich gemacht hat und der plötzlich entdeckt, welch "Sündenhaus" diese Welt doch ist, und in geradezu bigotter Selbstgerechtigkeit feststellt, dass er mit ihr nichts zu tun haben will: "Mir ekelt mehr zu leben". Der Tod ist für ihn die Lösung, denn er geht davon aus, dass er im Himmel erwartet wird. Die stimmliche Gestaltung dieser Gedankengänge und Sinneswandel ist Andreas Scholl ausgezeichnet gelungen.
Aber auch in den anderen Arien sang er äußerst textdienlich interpretierend wie in dem besorgten "Jesus schläft, was soll ich hoffen" BWV 81, in dem auffordernden "Leget euch dem Heiland unter" BWV 182 oder in dem ironisch leicht aromatisierten "Die Obrigkeit ist Gottes Gabe". Und zum Schluss. In dem Choral "Der Gott, der mir hat versprochen" BWV 13 stimmte er mit den Bläsern einen stabilen, glaubensgewissen Cantus firmus an.


Inspirierender Partner

Das Ensemble 1700 war ihm da ein inspirierender, kommentierender, provozierender Partner. Es hat einen ganz spezifischen Klang, weil es auf die Blockflöte ausgerichtet ist und dadurch mit einer etwas tieferen Stimmung spielt. Man kann natürlich bedauern, dass dadurch die Streichinstrumente etwas an Strahlkraft verlieren, die bei einer historischen Besaitung ohnehin etwas geringer als bei moderneren "Strippen", und zwar je tiefer, desto mehr. Der Kontrabass hatte manchmal Probleme, sich zur Geltung zu bringen. Aber man musste es nicht bedauern. Denn die 1700er zielen nicht, wie viele italienische Ensembles, auf das "Archeggiato", den "gepeitschten" Klang - obwohl eine ganze Reihe von Italienern in ihren Reihen sind, sondern auf einen weicheren, homogeneren und trotzdem konturierten Klang, der die Holzbläser, insbesondere die Blockflöten, besser zur Geltung bringt.


Große Vielfalt

Und von denen gab es in dem Konzert ja einige, zumal nicht nur Dorothee Oberlinger, sondern auch ihr Kollege Lorenzo Cavasanti so manchen Flötenton beisteuerte, wie etwa im Brandenburgischen Konzert Nr. 4 oder in der Arie "Die Obrigkeit ist Gottes Gabe", in der es auf eine perfekte Übereinstimmung der beiden Flöten ankommt. Überhaupt verbreiteten die Solisten großes Vergnügen: der tanzend dirigierende Konzertmeister Dmitry Sinkovsky, der so etwas wie den barocken Paganini gab und mit seinen frischen Tempi die ganze Truppe ganz einfach mitriss, oder der Oboist Alfredo Bernardini oder Wolfgang Gaisböck mit seiner Clarintrompete. Da war eine große Vielfalt möglich, da konnte Bach wunderbar von allen Seiten beleuchtet werden, bis sich zum Schlusschoral "Der Gott, der mir hat versprochen" sich noch einmal alle zu einer Art "Bach Jam Session" zusammenfanden - ein heiterer Abschluss unter ein höchst vituoses und anregendes Konzert.


Wundertüte als Zugabe

Mit zwei Zugaben verabschiedeten sich die Musiker: zum einen mit einer echten Wundertüte. Denn bei dem Duett für zwei Altstimmen und Orchester "Sound the trumpet" von Henry Purcell sang nicht nur Andreas Scholl, sondern auch Dmitry Sinkovsky, der seine Violine beiseitegelegt hatte, mit mitreißendem Schwung. Schließlich ist er auch ein ausgebildeter und höchst erfolgreich konzertierender Countertenor. Die zweite Zugabe gehört zum Bachkulturerbe: Andreas Scholl sang "Jesus bleibet meine Freude" aus der Kantate "Herz und Tat und Mund und Leben" BWV 147.